Zwischen Wand und Raum: Bernar Venets Reliefs in der Städtischen Galerie Tuttlingen

Es ist als Kunstform zwischen der Malerei und der Bildhauerei angesiedelt, das Relief. Wie ein Gemälde hat es eine Grundfläche, ragt aber von dieser in den Raum nach vorn – mal mehr als Hochrelief, mal weniger als Flachrelief. Da es wie ein Gemälde in der Regel an der Wand hängt, fehlt dem Relief ein wesentliches Charakteristikum der Plastik: Man kann es nicht umrunden, es kann seine Plastizität nicht voll im Raum entfalten. Wann ein Relief noch Bild und wann schon Skulptur ist, solchen Fragen kann man derzeit in der Städtischen Galerie Tuttlingen nachgehen. Sie zeigt Werke von Bernar Venet unter dem Titel: Reliefs.

Als Bernar Venet sich in den 60er Jahren den Reliefs zuwandte, machte er schon formal deutlich, wie eng das zweidimensionale Gemälde und das eher dreidimensionale Relief miteinander verwandt sind. Er zog sein Material zwar nicht wie ein Maler seine Leinwand auf einen Keilrahmen auf, das wäre mit der störrischen Wellpappe alter Kartons, aus denen diese Reliefs bestehen, gar nicht gegangen, aber er klebte sie auf einen solchen Rahmen auf. Damit hob sich das Kunstwerk bereits etwas von der Wand ab, unterschied sich also vom rein zweidimensionalen Gemälde, außerdem wiesen diese Reliefs durch Überklebungen auch eine gewisse Dicke auf, die aber von vorn oft kaum zu entdecken ist. Da wirken sie oft wie sich sanft vorwölbende Bilder, zumal Venet sie auch noch mit glänzender Farbe überzog. Betrachtet man sie aber von der Seite, erkennt man, wie viele Schichten sich da auf höchst raffinierte Weise in- und übereinander schichten und falten.

Wie nah seine Arbeiten am zweidimensionalen Kunstwerk liegen, zeigt im Entree zur Tuttlinger Ausstellung eine unregelmäßige schwarze Linie an der Wand. Sie wirkt wie auf die Wand gemalt, ist aber in Wirklichkeit ein etwa zwei Zentimeter dickes, breites Stahlband, das an die Wand gehängt wurde: Es ist weder Relief noch Zeichnung, allenfalls eine Reliefzeichnung – Venet lotet immer wieder in seinem Schaffen die Grenzen der künstlerischen Formen und Gesetzmäßigkeiten aus. Er nennt diese Arbeit denn auch „Continuous Line“, benutzt also einen Begriff aus der Zeichenkunst, und dieser Linie blieb er lange treu.

Er bog sie zu Kreisen, bezeichnete sie allerdings immer noch als Linie, aber wenn er dann solche Kreise wie eine unregelmäßige Spirale ineinander schichtet und schräg an die Wand lehnt, verlässt er den Bereich der zweidimensionalen Kunst. Diese Arbeiten, auch wenn sie für ihn immer noch Linien sind, überschreiten die Gesetzmäßigkeiten der Zeichnung, es sind allenfalls Zeichnungen im Raum oder gar in den Raum hinein, wie ein Blick von der Seite zeigt. Das sind skulpturale Gebilde, ohne aber vollständige Skulpturen zu sein, denn man kann nicht um sie herumgehen, auch wenn er solche kompletten Skulpturen auch schuf, etwa für den öffentlichen Raum.

Sein ganzes Schaffen lässt sich gewissermaßen als ein gedankliches und künstlerisch-formales Kreisen um die Frage definieren: Was kann eine Linie alles leisten, und da kann die Linie eben auch zur Raumplastik werden.

Immer wieder aber kehrte er zu dem zurück, was man gemeinhin mit Linien assoziiert. So schuf er zwischen 2011 und 2014 Arbeiten, die wirken, als habe ein Riese zum Tuschpinsel gegriffen und wild Schraffuren an eine Hauswand gemalt. GRIBS nennt Venet diese Arbeiten, nach dem französischen „gribouillage“, „Gekritzel“, und genau so wirken sie auch. Weil sie aber aus Stahlbändern bestehen, sind es Reliefkritzeleien, wieder eine Wesensüberschreitung der Linie, aus der ein Gekritzel letztlich ausschließlich besteht.

Und es ist nicht die einzige künstlerische Überprüfung von Grenzbereichen. Die unregelmäßigen Linien, Venet übernimmt den Begriff ausdrücklich in die Titel seiner Arbeiten, wirken, als seien sie ganz natürlich entstanden wie eine Erzader im Felsgestein. In der Tat überlässt Venet beim Schmieden viel dem Zufall und dem Wollen des Materials. Was aber nicht heißt, dass er der informellen Kunst zuzurechnen ist.

Er geht im Gegenteil gedanklich sehr präzise vor, was sich nicht zuletzt darin äußerte, dass er mathematisch exakte Gebilde konstruierte mit rechten Winkeln und Kreisbögen. Hier gibt er sogar exakte Maße an, aber selbst bei diesen so präzise berechneten Arbeiten gibt es einen beträchtlichen Anteil von spielerischer Fantasie: Er nennt solche Arbeiten nicht einfach nur Angles (Winkel) oder Arcs (Bögen), sondern definiert die jeweiligen Arbeiten in den Ausstellungen als Positionen, denn die Winkel und Bögen lassen sich auch anders kombinieren: Präzise Geometrie und Spiel der Naturmächte und der Fantasie – bei Venets Arbeiten kommt man immer wieder selbst gedanklich an Grenzen, die es zu überschreiten gilt.

Und dazu gehört auch der eigene Standpunkt, die Perspektive, denn auch wenn die Tuttlinger Ausstellung keine Vollplastiken im strengen Sinn zeigt, sollte man sich vor diesen Arbeiten doch bewegen und dabei entdecken, dass sich mit jedem Schritt das Aussehen verändert, und zwar radikal, selbst bei den so flach wirkenden Kartonreliefs der 60er Jahre.

Bernar Venet – Reliefs“. Galerie der Stadt Tuttlingen bis 12.9.2021

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