Sie kann den Inbegriff von Nähe ausdrücken, die Familie, eine eng verschworene Gemeinschaft aus Mutter, Vater und Kindern – und allen Anverwandten. Doch da kann die eng verschworene Gemeinschaft auch schon aufhören. Familie kann ein Idealbild sein oder eine Zwangsveranstaltung, eine Zweckgemeinschaft oder Wesensverwandtschaft, auf jeden Fall kann man sie sich nicht aussuchen, sie wird einem geschenkt oder man ist zu ihr verurteilt. Für Schriftsteller ist sie ein Quell an Fakten, Inspirationen und Bildern. Das Deutsche Literaturarchiv spürt in einer Ausstellung der Bedeutung des Phänomens für die Literatur nach.
Stammbaum der Familie Mörike (Foto: DLA Marbach)
Wenn ein Literaturarchiv sich auf die Suche nach der Familie begibt, sollte man meinen, es würde zuerst bei Thomas Mann fündig werden, schließlich sind seine Buddenbrooks der Inbegriff des Familienromans, der sich zudem auch noch auf die eigene Familie des Autors stützt und damit auf intime Detailkenntnisse. Doch die Ausstellung beginnt mit einem Taufhemd. Was zunächst befremdlich wirken mag, macht auf den zweiten Blick Sinn: Mit der Taufe wird das Kleinkind in die christliche Familie aufgenommen, und ein solches Taufhemd, wenn es in einem traditionsbewussten Haushalt wie dem der Familie Goethe in Frankfurt benutzt wird, ist nicht neu gekauft, sondern über Generationen hin vererbt. Indem das soeben Geborene in das Taufhemd gekleidet wird, wird es zugleich Teil einer langen Ahnenreihe – und wo ließe sich eine solche Ahnenreihe exakter und historisch verifizierbarer nachlesen als in einem Stammbaum. Doch ist dem tatsächlich so? Eduard Mörike konnte im Stammbaum seiner Familie auf einen für einen protestantischen schwäbischen Pfarrer ehrwürdigen Vorfahren stoßen, einen „D.M. Lutt“, gemeint ist wohl Luther. Nun hatte der als Urschwabe geltende Mörike tatsächlich einen Vorfahrenszweig in Norddeutschland, doch ob der tatsächlich den Begründer der Religion umfasste, die der Dichter im 19. Jahrhundert predigte, ist fraglich.
Mörike taucht in den Stammbäumen dieser Ausstellung gleich mehrfach auf. So wurde eine gemeinsame „Stammmutter“ ermittelt, die ihn in Blutsverwandtschaft zu seinen Kollegen Uhland, Hölderlin und Schelling bringen soll. Derartige stammbäumlich verortete Geistesverwandtschaften finden sich auch für Storm, Brahms und Claudius. Was den Süddeutschen ihre Nachtigall, war den Nordlichtern eben ihre Uhl.
Bei Menschen, die von Berufs oder Berufung wegen mit der Fantasie arbeiten, ist der Stammbaum also nicht unbedingt ein historisch akzeptables Dokument. Mechthilde Lichnowsky fand, oh Zufall, Geoffrey Chaucer unter ihren Vorfahren, „the poet“, wie sie hinzuschrieb. Rainer Maria Rilke versuchte krampfhaft, seine Herkunft in den Adel zurückverfolgen zu können.
Stammbaum der Katze Erich Kästners (Foto: DLA Marbach)
Solche Stammbaumfantastereien haben auch eine tragische Seite. Erich Kästner, bei den Nazis verfemt, stellte sich einen arischen Ahnenpass aus. Zwanzig Jahre danach verfasste er einen Stammbaum für seine Katze.
Seriöser in ihrer Aussage könnten da Fotografien sein, Familienalben sind voll von ihnen aus Anlass von Familien- und sonstigen Festen. Im Hause Enzensberger war der Geburtstag der Mutter Anlass zum Zusammentreffen und zum Familienbild – und siehe da: so unterschiedlich die Gesichter der Familienmitglieder auf diesen Fotos auch anmuten mögen, dass Hans Magnus der Sohn von Andreas Enzensberger ist, ist augenfällig: Familienverwandtschaft ins Gesicht geschrieben. Aber ist das alles tatsächlich echte Familie? Thomas Mann posiert im Kreis seiner Kinder als pater familias und Lehrmeister par excellence mit erhobenem Zeigefinger und Brille auf der Nase. Gerhart Hauptmann ließ sich neben einer kleinen Statue von Dichterfürst Goethe fotografieren, dessen Haltung er auf anderen Fotos nachahmte.
Womit wir bei einer Familie wären, die Blutsbande nicht für sich in Anspruch nehmen kann, die Wahlverwandtschaft, zu der letztlich auch die Ehe gehört. Kurt Tucholsky erwies ihr postum die Ehre. Er setzte seine erste, geschiedene Frau als Universalerbin ein, und sie erwies sich fortan als das, was sie mit Trauschein nicht vermochte: als wahre lebenslange Partnerin, die seinen künstlerischen Nachlass verwaltete. Jakob Wassermann erwies diese Ehre seiner zweiten Ehefrau. Er schrieb ihr die Hälfte der Tantiemen aus seinem Schauspiel Lukardis zu, weil ihre Mitarbeit an diesem Stück ihm so wichtig war, und er formulierte den Passus unmittelbar nach dieser „Ko-Produktion“.
Max Frischs Jaguarschlüssel für Volker Schlöndorff und Polaroidaufnahme der Übergabe, 1990 (Leihgabe: Volker Schlöndorff. Foto: DLA Marbach)
Ganz außerhalb der eigentlichen Familie befand sich der Seelenverwandte, dem Max Frisch seinen geliebten Jaguar vermachte, dem Regisseur Volker Schlöndorff, der Frischs Roman Homo faber zu Leinwandruhm brachte. Der Autoschlüssel ruht im Marbacher Archiv bzw. zur Zeit in einer Ausstellungsvitrine, das Polaroidfoto der Übergabe liegt bei, als Dokumentation gewissermaßen.
Und natürlich erweisen Dichter auch in ihrem Berufsleben ihren realen Familien einen Dienst. Stephan Wackwitz widmete seiner Mutter ein Buch, Walter Benjamin seinem Sohn seine Berliner Erinnerungen, und endlich kommen wir auch zu den Buddenbrooks, respektive der Familie Mann, der Familienmitglied Thomas damit in den Auge vieler seiner Angehöriger allerdings einen Bärendienst erwiesen hat.
Literatur hat ihre Tücken – und die Familie spielt unter Literaten eine besondere Rolle, so besonders, dass man sich nach dem Ausstellungsparcours unwillkürlich fragt: Gibt es die Familie, oder ist sie nicht vielmehr Ausgeburt der Fantasie? Zumindest bei den Schriftstellern.
„Die Familie. Ein Archiv“. Literaturmuseum der Moderne, Marbach, bis 29.4.2018. Katalog 295 Seiten, 30 Euro