Zwischen spontaner Natürlichkeit und symbolischer Verdichtung: Ernst Ludwig Kirchner in der Stadthalle Balingen

Sie wollten sich befreien von den Zwängen der akademischen Malerei, wollten ganz der Spontaneität leben und sie künstlerisch verarbeiten – die Künstler, die sich 1905 unter dem Namen „Brücke“ zusammentaten und nicht selten gemeinsam arbeiteten – und sich vergnügten. Wenn man badete, dann möglichst nackt, Freiheit war Trumpf, Naturalismus war verpönt, es galt der innere Ausdruck. Einer der maßgeblichen Vertreter dieser Gruppe, vielleicht sogar der programmatischste, war Ernst Ludwig Kirchner. Eine Ausstellung in Balingen lenkt jetzt den Blick eher auf die Erotik seiner Kunst – auf den Akt, auf die Halbwelt der Prostituierten, auf den Tanz.

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                            Erich Heckel und Otto Mueller beim Schach, 1913, Brücke-Museum Berlin

Wie das Leben dieser damals durchweg jungen Künstler ausgesehen haben mag, zeigt ein Gemälde, das vom Titel her fast großbürgerlich anmutet. Es zeigt Erich Heckel und Ernst Ludwig Kirchner beim Schachspiel. Im Hintergrund aber sehen wir nicht einen feudal ausgestatteten Salon, sondern eine nackte liegende Frau, scheinbar unbeachtet von den beiden ins Schachspiel Versunkenen, doch man kann sicher sein, dass sie vor Beginn des Spiels durchaus die Aufmerksamkeit der beiden Künstler hatte, eine sehr intensive Aufmerksamkeit sogar. Nur wenige Künstler dürften innerhalb weniger Jahre derart viele Aktbilder geschaffen haben wie diese Freunde: Mal leicht bekleidet im Badeanzug, meist aber nackt, und vor allem nicht so sehr mit Pinsel und Öl porträtiert, wie man es vom klassischen Akt her kennt, sondern mit wenigen, manchmal wie fahrig wirkenden Strichen zu Papier gebracht. Die Zeichnung ermöglichte, was die Ölmalerei nur schwer zuließ: die rasche Momentaufnahme, und darauf kam es diesen Künstlern an. Die Balinger Ausstellung, die vom Brücke-Museum in Berlin konzipiert wurde, zeigt im vor allem diese graphischen Arbeiten aus den Beständen des Brücke-Museums – und ermöglicht es dem Besucher mit ihnen, einzutauchen in das Wesen dieser Kunst: Details blieben meistens unberücksichtigt, der Körper stand im Mittelpunkt. Es waren „Viertelstundenporträts“, die Brückekünstler legten Wert auf die skizzenhafte Zeichnung, weil in ihr das Motiv authentisch wiedergegeben werden konnte.

Kirchner zeigte sich in der Konzentration auf das Wesentliche, auf knappe Striche, als der große Meister, mehr noch vielleicht als ein Erich Heckel oder Karl Schmidt-Rottluff. 6 ELK Zwei nackte Maedchen 61663 (682x900)

Zwei nackte Mädchen, 1909, Brücke-Museum Berlin

Ihm gelang nämlich zugleich neben dem spontan wirkenden Skizzenhaften zugleich symbolische Ausdruckskraft. So scheinen die Körper zweier nackter Mädchen geradezu miteinander zu verschmelzen, das Runde steht für das Weibliche, das organisch Anmutende für die Naturverbundenheit.

Das sollte sich ändern, als Kirchner 1911 in die Großstadt zog, erst nach Dresden, dann nach Berlin. Fast schlagartig veränderte sich sein Strich: Die Linien wurden eckiger, geradezu zackig, die Figuren wirken hochgeschossen, die Herren in den Straßenszenen dadurch ein wenig arrogant, unnahbar, ganz anders als die befreundeten Modelle an den Moritzburger Seen. Damit fing Kirchner zugleich auch die Nervosität des Großstadtlebens ein, das Tempo, das die Straßen beherrschte – und auch einen Hauch von Dekadenz, denn jetzt waren seine Modelle zunehmend nicht mehr befreundete junger Frauen, sondern Kokotten, Straßendirnen, Halbweltdamen. 4 ELK Sich anbietende Kokotte 61884 (687x900)

Sich anbietende Kokotte, 1914, Brücke-Museum Berlin

Kirchner, das zeigt diese Abteilung der Ausstellung, gelang die Verbindung von Spontaneität und Symbolik. Die „Ekstase des Erlebens“ reizte ihn, wie er einmal formulierte, und zugleich schuf er mit seinen Großstadtszenen Symbole einer Endzeit.

Vielleicht war dies auch Folge seiner psychischen Erkrankung. Führte bei manchen seiner Malerkollegen das Erlebnis der Front zu Ernüchterung und psychischer Erschütterung, reichte bei ihm bereits die Erfahrung der ersten Monate beim Drill im Ausbildungslager – er sollte sich davon nicht mehr erholen. Auch die Flucht in die ländliche Idylle der Schweizer Alpen bei Davos brachte nur kurz Linderung von seinem Nervenleiden. Immerhin: Wie das Erlebnis der Großstadt einen Wandel in seinem Stil bewirkt hatte, so reagierte Kirchner in seinem künstlerischen Ausdruck auch in der Alpenwelt auf die neuen Erfahrungen. Begeistert wandte er sich der Fotografie zu, fixierte mit dem Fotoapparat das, was er zwanzig Jahre zuvor an den Moritzburger Seen mit dem Zeichenstift festgehalten hatte: den natürlichen Ausdruck des nackten Körpers. Mehr noch: er entdeckte den modernen Ausdruckstanz einer Mary Wigman und Gret Palucca, die ihn auch in Davos besuchten, und schuf noch einmal eine symbolische Körperkunst, bei der Körper, Bewegung und Raum zur Einheit verschmolzen.

Lange währte diese letzte Phase seines Schaffens freilich nicht. 1939 setzte Kirchner seinem Leben ein Ende – auf der Staffelei stand sein letztes Bild; es beendet chronologisch auch diese Ausstellung, die so manchen Besucher enttäuschen mag, weil sie vergleichsweise wenige Ölbilder präsentiert, die aber gerade mit der Konzentration auf die graphischen Arbeiten das Wesen dieses Künstlers nachvollziehbar macht.

Ernst Ludwig Kirchner: Modelle, Akte & Kokotten“, Stadthalle Balingen bis 3.10.2016, Katalog 227 Seiten, 39.90 Euro

 

Hierzu gibt es einen Film von Horst Simschek und mir

 

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