Kleine Häuschen, die Welt im Miniaturformat – da fühlt man sich zurückversetzt in die Zeit des Biedermeier oder die der großen alten flämischen Meister. Aus dieser Welt könnte auch ein großes Gemälde stammen, das der Kreis Rottweil in Auftrag gegeben hatte. Hunderte von Häusern sind da liebevoll porträtiert, eine alte Stadt – die älteste von Baden-Württemberg: Rottweil. Doch das Bild ist nicht Jahrhunderte alt, sondern gerade einmal wenige Wochen. Vier Jahre hat Norbert Stockhus daran gemalt – und auf den zweiten Blick erkennt man unschwer, wie bei allen Bildern dieses Meisters im Umgang mit dem Pinsel, dass es sich um ein Bild unserer Tage handelt.
So findet sich neben den alten Häusern auch der Turm, der vor den Toren der Stadt seit einiger Zeit die Gemüter bewegt. Bei Stockhus erinnert er an nden Turm von Pisa mit seinen Arkaden in mehreren Etagen, aus denen eine Art spiralformig gedrehte kannelierte Säule in die Höhe ragt. Stockhus mischt Neu und Alt – und er mischt Realität und Fiktion. An der Stelle, an der sich heute ein moderner Supermarkt befindet, stand früher ein altes Kaufhaus. Stockhus hat ein solches Gebäude wieder erstehen lassen, aus seiner Fantasie, denn wie es ausgesehen hat, dürfte unbekannt sein. Im seinem Stadtbild finden sich Werke seiner Rottweiler Künstlerkollegen Jürgen Knubben, Angela Flaig, Joseph Bücheler – und natürlich Erich Hauser, verewigt in Form eines Dachs aus spitzen Edelstahlteilen; in der Realität sucht man diese Werke vergebens.
Diese Mischung ist charakteristisch für diesen Maler. Altmeisterlich im Stil wirken seine Bilder – und sind doch hochgradig modern. Vor allem: Immer geht er von Dingen aus, die dem Auge vertraut erscheinen – Steingebilden, Häusern, Straßen, sogar Automobilen – , die aber stets in einer verfremdeten Welt auftauchen. Städte ziehen sich wie Gräben durch eine Landschaft. „Schlucht“ heißt ein solches Gemälde dann und kehrt die Verhältnisse um, denn üblicherweise erwartet man, Zeugnisse menschlicher Zivilisation an der Erdoberfläche anzutreffen, im Inneren, das sich in Schluchten kundtut, dagegen reine Erdnatur; bei Stockhus ist es umgekehrt. „Ghetto“ heißt ein anderes seiner fantastischen Städtebilder: Eine Stadt ist eingepfercht in viereckige Kästen, wie zum Umzug bereitgestellt, vielleicht aber auch von einer schützenden Hülle umgeben: Stockhus‘ Bilder entziehen sich eindeutigen Interpretationen.
Allen gemeinsam ist eine malerische Präzision sondergleichen und ein Hang zur Kleinteiligkeit. So begnügt er sich bei Felsstücken nicht mit der Andeutung von Gesteinsmassen, er baut vielmehr seine Felsmassive aus kleinsten Elementen auf – und schon meint man, eine Fantasielandschaft vor sich zu haben. Aber weit gefehlt. Man braucht nur ein paar Schritte vor die Tore von Rottweil zu gehen – oder von Glatt, wo Stockhus sein Atelier hat -, und man sieht eben diese Felsstückchen in natura: Stockhus hat in Wirklichkeit akribisch genau die Realität kopiert. Diese Realität aber schlägt auf seinen Bildern immer um in Irrealität oder gar Surrealität.
Wenn er Personen porträtiert, persifliert er die reale Lebenssituation. Da kann auch mal ein Pferdekopf aus einem Bilderrahmen in das Wohnzimmer hervortreten und seine auf dem Gemälde porträtierte Reiterin auf dem Sofa gewissermaßen über den Kopf hin anwiehern. Als „Selbermaler“ hat sich Stockhus selbst präsentiert. Auf den ersten Blick scheint es ein traditionelles Selbstbildnis des Künstlers mit Pinsel in der Hand zu sein. Doch bei Stockhus‘ Berufsselbstporträt hat man den Eindruck, der Maler stehe einige Zentimeter hinter einer transparenten Leinwand und setze gerade den Pinsel zu einem ersten Strich für sein Porträt an, als male er sich in diesem Augenblick selbst. Die Titel dieser Bilder sind sehr präzise.
Ansonsten fehlen auf seinen Bildern Menschen. Diese Gemälde scheinen von einer Welt zu erzählen, aus der der Mensch verschwunden ist und in der sich nur noch die Zeugnisse seiner Existenz befinden: Häuser, Stadtkerne – nicht selten bereits dem Verfall anheimgegeben. Doch wirken selbst derart ruinöse Endzeitbilder geradezu prezios, als seien diese Häuser aus Edelsteinen erbaut. Immer wieder hat man das Gefühl, in die Schatzhöhle eines Aladin aus 1001 Nacht zu blicken – oder in das Labor eines Zivilisationsschützers, der als einziger den Untergang der Menschheit überlebt hat. Häuser werden da unter Naturschutz gestellt, eingehüllt. Schutzbedürftig ist vor allem die Natur. Für den Tierschützer Horst Stern hat Stockus eine Reihe von Plakaten entworfen, die symbolträchtig und sarkastisch das Anliegen seines Freundes illustrieren: Die Anklage gegen die Verwendung von Krokodilleder in der Modewelt wurde bei ihm zu einem Krokodil, das an zwei Riemen wie eine Damenhandtasche getragen wird.
„Am Tropf“
Ein Baum erscheint wie ein Patient auf der Intensivstation, am Tropf, ohne den er rettungslos verloren wäre.
Norbert Stockhus‘ Bilder sind voller Rätsel, die man leicht lösen zu können meint, die aber immer nur neue Rätsel stellen. Es sind letztlich Bilder über die Zeit: Zeit, die unendlich zu sein scheint, in der sich nichts bewegen will, kaum ein Wind die Blätter der Bäume rauschen lässt, Zeit aber auch, die über die Menschen und die von ihnen über Jahrtausende sorgsam errichtete Zivilisation hinweggeeilt ist. Es sind Bilder, die wie Laboratorien eines größenwahnsinnigen Wissenschaftlers wirken oder wie Wüsten, in denen einst vor Urzeiten Hochzivilisationen geblüht haben mögen: Bilder, die in ihrer malerischen Präzision und Detailverliebtheit präzise und eindeutig wirken und zugleich vor dem geistigen Auge des Betrachters ein Eigenleben zu entwickeln scheinen, wie das große Rottweilporträt, bei dem man meint, in nächster Sekunde eine Wunderwelt geschäftigen Mittelalters erleben zu können, und das doch zugleich festgemauert in der Erden unerschütterlich zu ruhen scheint.
Das Rottweilbild ist zusammen mit anderen Städteporträts von Norbert Stockhus im Alten Rathaus in Rottweil zu sehen bis 4.9.2016. Katalog
Zu Norbert Stockhus findet sich ein Film von Horst Simschek und mir auf Youtube