Jede Kunstform hat spezifische Ausdrucksmöglichkeiten, die den anderen abgehen: Die Musik kann mit Tönen Bereiche ansprechen, die der Sprache nicht zugänglich sind, der Tanz kann es durch die reine Bewegung. Natürlich sind Vermischungen möglich und auch üblich, allerdings behutsam einzusetzen, wie unter anderem der neue Abend der Noverre-Gesellschaft in Stuttgart mit Arbeiten junger Choreographen zeigt.
Carlos Strasser © Stuttgarter Ballett
Dass Choreographen ihren Stücken Texte beigeben, ist nicht ungewöhnlich, sei es, um ihre Inspirationsquelle zu veranschaulichen, sei es, um Themenspektren des Tanzes anzudeuten. Den „Text zum Tanz“, den man sich zu der Choreographie des blutjungen Carlos Strasser per QR-Code vom Programmzettel herunterladen kann – wobei sich die Frage stellt, wann man ihn liest, denn Smartphones sind während Ballettvorstellungen auszuschalten –, braucht man nicht zu lesen, er ist Teil der Choreographie Zwischen Wind und Asphalt, und darin liegt zugleich die Crux. Strasser rezitiert die von ihm stammende Erzählung, zu der er am Klavier auch die Musik spielt. Der Tanz folgt zunächst ganz der Musik: Rhythmisch gestikuliert der Tänzer Carter Smalling die musikalischen Akzente. Das ist ein spannendes Parallel-Geschehen von Wort und Musik. Doch dann tritt eine Tänzerin hinzu und agiert mit Smalling das szenisch aus, was der Text erzählt – eine poetisch-fantastische Liebesgeschichte. Dabei aber wird der Tanz weitgehend zur Begleitung des Textes degradiert.
Ähnliches geschieht auch im zweiten Stück des Abends, Le Piège de Gaspard. Emanuele Babici hat sich für seine Choreographie die Geschichte gewählt, die Maurice Ravels Klavierstück „Gaspard de la nuit“ zugrunde liegt – ein Griff in die Tradition der Schauergeschichten des 18. Jahrhunderts, in der eine junge Frau Gefahr läuft, in die Fänge des Teufels zu geraten. Tänzerisch ist dieses Stück wie der Pas de deux bei Strasser phantasievoll choreographiert – kein Wunder: Die Künstler, die sich hier meist erstmals mit Choreographien dem Publikum vorstellen, waren bisher als Tänzer tätig und sind es noch; sie haben solche Tanzszenen oft einstudiert und aufgeführt. Doch mehr als die Illustration der Jagd dreier Teufelsgestalten auf das Mädchen ist dabei nicht herausgekommen.
Neueres versuchte Noan Alves in Trepidation, bei dem die beiden Tänzer nach einem Pas de deux am Boden in Schleim baden, den man deuten mag, wie man will.
Überhaupt stellt sich die Frage, ob Ergänzungen zum genuin choreographischen Tanz wie altmodisches Mobiliar in einem Schlafzimmer oder eine Lampe, mithilfe derer man Teufel zu vertreiben versucht, dem tänzerischen Ausdruck gut tun. Es sind jeweils die rein choreographischen Aspekte, die bei diesen beiden Arbeiten faszinieren. Bei Babici ist es die sich immer hektischer entwickelnde Verfolgungsjagd um die junge Frau, bei Vladyslav Detiuchenkos Stand by Me ist es die faszinierend gestaltete Sehnsucht einer jungen Frau nach einem Partner, aus welcher Welt auch immer. Detiuchenko gelingen hier mit Ruth Schultz und Macéo Gérard eindrucksvolle Grenzbegegnungen zwischen Realität und Fantasie. Die Tischlampe wäre dafür nicht nötig.
Heaven Sent. Veronika Verterich, Clemens Fröhlich © Stuttgarter Ballett
Dass der reine Tanz vollkommen ausreicht, demonstrierten die übrigen vier Stücke des Abends. Eine Art Märchen bringt Adrian Oldenburger in Heaven Sent auf die Bühne. In fast unirdischer Schönheit gelingt es ihm, den Übergang einer Frau von der Welt des Lebens in das Reich des Todes darzustellen. Wie ein Engel macht Clemens Fröhlich der Partnerin Veronika Verterich diese „letzten Minuten“ zum reinen Glückstraum, ehe das Ende sie umfängt.
Auch Edvin Revazovs Unbound atmet einen Hauch von Optimismus, wiewohl er als eine Art Totentanz zum Trauermarsch aus Beethovens „Eroica“ beginnt, um dann am Ende mit der allein gelassenen Frau auszuklingen. Die leere Bühne, die reine Bewegung – das ist tänzerischer Ausdruck.
Dabei kann die Bewegung auch ungewohnte Formen annehmen. In einer geradezu psychoanalytischen tänzerischen Studie And So Am I spürt Neshama Nashman der Frage nach der Identität nach. Wer bin ich, was unterscheidet mich von anderen, von Geschwistern beispielsweise. Aoi Sawano und Irene Yang brillieren dabei in einem Wechselspiel von emotionaler Nähe und kämpferischem Antagonismus, der am Ende bis zum Totschlag führt.
10 Minutes of Silence. Alessandro Giaquinto, Christopher Kunzelmann, Flemming Puthenpurayil © Stuttgarter Ballett
Und was alles in purer Lautlosigkeit geschehen kann, führt Martino Semenzato furios vor, indem er in seinen 10 Minutes of Silence einen „Spielleiter“ – man könnte ihn auch „Choreograph“ nennen – mit zwei Tänzern durchexerzieren lässt, in welchen Konstellationen zwei Körper miteinander zu einer skulpturalen Einheit gebracht werden können, ehe die beiden „Spielpuppen“ sich nach dem zehnminütigen Schweigen schließlich zu einem eigenständigen Tanz zu zweit emanzipieren.
In solchen Choreographien ganz ohne Zutat – ob Requisiten, Kostüme oder Schleim – entsteht Tanzkunst und lässt in diesen Fällen auf Neues hoffen, schließlich stehen diese jungen Choreographen noch am Anfang in diesem Metier.
„Noverre: Junge Choreographen 2024“, Stuttgarter Ballett. Der Stream auf der Homepage des Balletts ist bis 31.5.2024 zu sehen.