Für viele bedeutet der Linolschnitt eine frühe Schulerinnerung. Das Material lässt sich auch von Kinderhand leicht ritzen, die glatte Oberfläche kann zu allen Motiven genutzt werden im Unterschied zum gemaserten Holz. Aber auch große Künstler haben den Linolschnitt für sich entdeckt – Picasso, Matisse, Karl Rössing. Letzterer brachte in den 50er Jahren an der Stuttgarter Akademie dem jungen Robert Förch diese Technik so nahe, dass er ihr sein künstlerisches Leben gewidmet hat.
Ravennatischer Turm mit Vogelschwarm, 1984. Foto: Julia Lutzeyer
Man kann mit den Linolschnitten von Robert Förch mühelos ganze Kulturreisen unternehmen, denn reine unberührte Natur findet sich auf seinen Blättern ganz selten. Stets sind es von Menschenhand geprägte Orte: Das können Städte mit großer Historie sein wie Ravenna, Bergamo oder Venedig, das können einzelne Bauwerke sein wie die Kathedrale von Beauvais, das können aber auch von Menschen angelegte Austerngärten sein, Weinberge oder die Steinbrüche von Carrara.
Ohne den Menschen gäbe es diese Orte nicht, doch die Menschen selbst sind auf Robert Förchs Bildern in der Regel nicht zu sehen. Die Plätze sind menschenleer, allenfalls ein Vogelschwarm erhebt sich in die Luft und bringt Leben in die Szenen. Was nicht heißen soll, dass den Bildern Leben abginge. Die Menschen sind zwar nicht sichtbar, aber spürbar. Förch porträtiert deren Leben in Spuren, die ein solches Leben hinterlassen hat. So merkt man einigen beiläufig beiseite gerückten Stühlen auf einer italienischen Piazza deutlich an, dass dort soeben noch Menschen gesessen haben, man möchte am liebsten warten, bis sie wieder zu ihren Plätzen zurückkehren. Was wie eine statische menschenleere Szenerie wirkt, fast wie ein Bühnenbild vor Beginn einer Theatervorstellung, regt die Fantasie des Betrachters an: Er malt sich das dazugehörige Leben aus und erfüllt das Bild mit seiner eigenen Vorstellung.
Jedes Bild von Robert Förch atmet auf diese Weise, gerade weil die Menschen selbst abwesend sind. Ein Doppelbett in einem Hotelzimmer wähnt man fast noch warm von den beiden Körpern, die offenbar gerade eben noch drin gelegen haben. Förch erzielt diesen Eindruck von Lebendigkeit, von vibrierender Präsenz zum einen durch die Perspektive. Selten blicken wir frontal auf einen Gegenstand, meist liegt er eher am Rande, als hätten wir ihn nur durch Zufall entdeckt und wollten ihn erst noch genauer in Augenschein nehmen. Das scheinbar Nebensächliche wird auf seinen Bildern zur Hauptsache, wie so oft im wirklichen Leben. Daher rücken oft weniger die Gebäude in den Fokus des Bildes, sondern Beiläufiges wie Pflastersteine, Löcher in einer Wand. Der Dom von Bergamo ist von einem riesigen Baugerüst samt Plane verhüllt, lediglich die Spitze der Kuppel ist noch zu sehen. Ist er deswegen weniger präsent?
Venedig – Ognissanti, 1989. Foto: Julia Lutzeyer
Venedig – Ognissanti lautet der Titel eines Linolschnitts. Venedig ist dabei durchaus erahnbar. Eine kleine schwarze Gondel befindet sich am unteren Bildrand, doch der Blick auf die Kirche ist durch einen großen Vorhang versperrt, der den größten Teil des Bildes ausmacht.
Florenz – Piazza Goldoni, 1982. Foto: Julia Lutzeyer
Selten stellt Förch die touristischen Sehenswürdigkeiten ins Zentrum seiner Szenen. Auf einem Florenzbild ist die titelgebende Piazza Goldoni in weite Ferne gerückt, im Vordergrund eine Straßenkurve! Drei Säulen scheinen ihm wichtiger zu sein als das danebenstehende Baptisterium, dessen Architektur nur angeschnitten zu sehen ist. In England suchte er sich nicht Shakespeares Geburtshaus in Stratford aus, sondern in Portsmouth den Garten von Charles Dickens, ein unscheinbares Fleckchen Grün in einem Hinterhof.
Leblos, gar geschichtslos ist keiner der Orte auf diesen Bildern. Eine Mauer ist alt, der Putz löcherig, das Straßenpflaster unregelmäßig. Jeder noch so kleine Gegenstand scheint eine Geschichte erzählen zu wollen, eine Geschichte, die der Betrachter für sich erzählt. So eignet man sich diese Bilder an. Förchs Bilder sind voller Leerstellen, und die wollen von der Fantasie des Betrachters ausgefüllt sein.
Dieser Eindruck des Lebendigen wird aber vor allem durch Förchs Kunst des Druckens erreicht. Seine Begeisterung für den Linolschnitt wurde durch Karl Rössing geweckt, der ein Meister des Vielschichtigen war, und das im Wortsinn, denn im Unterschied zum Holzschnitt, bei dem die Flächen meist deckend gedruckt werden, kann die Farbe auf das Linoleum dünn aufgetragen werden, sie deckt nicht, sie lasiert, kann so in mehreren Schichten übereinander gedruckt werden, sodass die darunter liegenden Schichten noch sichtbar sind. Es ergeben sich Farbmischungen, die nur durch die Vielschichtigkeit der Drucke möglich sind. Farbe wird so in sich changierend, wechselvoll, eben lebensvoll, zumal Förch den Druck mit der Presse meidet und mit der Hand jeden Zentimeter differenziert auf das Papier aufbringt. So erweist sich gerade das unpersönliche glatte Material des Linoleums unter seiner künstlerischen Hand als das ideale Druckmaterial. Die an sich leblose glatte Fläche des Linoleums erweist sich bei ihm als ideales Medium, um Lebendigkeit in allen Sphären dieser Bilder zu erzielen – Lebendigkeit und zugleich Geheimnis, denn stets atmen diese Bilder etwas Melancholisches, Rätselhaftes. Vielleicht hat Förch aus diesem Grund eine Vorliebe für Fensterbilder. Er bringt dieses traditionelle Motiv der Kunstgeschichte zur
Meisterschaft, denn er macht deutlich, dass ein Blick aus dem Fenster die Welt in ein Bild verwandelt. Der Ausschnitt steht für das Ganze, und die Spiegelungen in den Fensterflügeln tragen das Ihre dazu bei, die uns vertraut wirkende Welt ein Stück weit unwirklich werden zu lassen, sodass man sie stets wie zum ersten Mal zu sehen meint. Die Welt, die wir zu kennen meinen, wird von Förch in Frage gestellt und doch nie geleugnet. Sie ist wirklich und unwirklich zugleich, Realität und gleichzeitig ein Traum von der Realität.