Es galt, die Üppigkeit der Blumen möglichst naturgetreu wiederzugeben, und das mit Pinsel und Farbe. Die Niederländer vollbrachten dabei im 17. Jahrhundert wahre Malwunder. Doch die Zeit, in der die Malerei die Realität abzubilden hatte, ist längst Geschichte, und so sollte man meinen, ein Blumenstillleben habe in der Kunst des 20. Jahrhunderts, gar der Gegenwart, keinen Platz. Doch weit gefehlt, wie eine Ausstellung in der Galerie Schlichtenmaier zeigt, die mit einem Hesse-Zitat in ihrem Titel bewusst romantische Assoziationen heraufbeschwört. „Wie Blüten geh’n Gedanken auf“.
Man meint, vor einem Stillleben aus dem 17. Jahrhundert zu stehen, zumal im Untertitel des Bildes Daniel Seghers zitiert wird, ein flämischer Maler, und auf dem Bild sind zwei Blüten zu sehen, die Seghers auf einem seiner Stillleben vereint hat. Aber dieses Bild ist in Wirklichkeit eine Fotografie, und auch dieser Eindruck täuscht, denn zu sehen sind voll erblüht eine Tulpe neben einer Rose, und die blühen zu unterschiedlichen Zeiten. Der Maler kann so etwas herstellen, denn er braucht die Blüten nicht gleichzeitig vor sich zu haben, der Fotograf aber sehr wohl. Hiroyuki Masuyama brachte das Kunststück fertig, indem er sein Bild aus tausend zu verschiedenen Zeiten aufgenommenen Fotos übereinandergelagert komponierte.
Ausgerechnet die Wiedergabe von Natur – im 17. Jahrhundert mit dem Pinsel hergestellt eine grandiose künstlerische Handwerkskunst – scheint die Künstler von heute zu neuen Wegen herauszufordern. Fotos mit Blumenstillleben stellt auch Vera Mercer her, aber auch bei ihr entdeckt man bei genauem Hinsehen Ungereimtheiten. Da sind Äpfel unverhältnismäßig verschieden groß, sind Bildflächen angeschnitten, Perspektiven verschoben. Was wie ein normales Foto eines Blumenarrangements aussieht, entpuppt sich als raffinierte Kombination verschiedener Fotos, die zum Teil den Hintergrund des Stilllebens abgeben.
Und auch die Arbeiten von Luzia Simons wirken nur auf den ersten Blick wie schlichte Fotos, sind in Wirklichkeit aber kunstvoll komponierte Scans, bei denen die übliche Zentralperspektive, die man auch von Fotografien kennt, fehlt, dafür gibt es eine Art „Lichtperspektive“, denn die der Scanplatte am nächsten liegenden Pflanzenteile sind am hellsten.
Aber auch die Künstler, die traditionell mit Pinsel und Farbe arbeiten, begnügen sich selten nur mit der Wiedergabe von opulenten Blütenträumen. Emil Nolde beispielsweise gelingt im Aquarell der Spagat, den Eindruck einer Blüte und zugleich abstrakter Farbmalerei hervorzurufen. Und was Nolde vor siebzig Jahren zu Papier brachte, führt Lorenz Spring im 21. Jahrhundert mit Farbe auf Leinwand weiter. Was auf dem Bild laut Titel eine Seerose sein soll, ist nur reliefhaft dick hingetupfte Farbe, abstrakte Farbmalerei. Erst die Fantasie der Betrachters macht daraus, natürlich raffiniert gelenkt von der Farbgestaltung durch den Maler, den Eindruck einer Blüte.
Ein ähnliches Spiel mit Abstraktion und gegenständlicher Blumenandeutung findet sich bei Ralph Fleck. Betrachtet man seine Bilder aus der Nähe, wie er sie beim Malen vor sich hatte, sieht man lediglich dicke, abstrakte Farbmuster. Geht man einige Schritte nach hinten, entwickeln sich mit jedem Schritt immer mehr Ähnlichkeiten mit Blumenporträts: Abstraktion und Gegenständlichkeit scheinen eine seltsame Koexistenz einzugehen.
Auch Peter Sehringer haben die Naturphänomene zu einer eigenen Malart angeregt. Er schliff die aufgetragene Farbe nach dem Trocknen wieder ab. So meint man, einen Farbdruck vor sich zu haben, dessen Farben aber sehr haptisch wirken, und steht doch gemalten Bildern gegenüber, Acryl auf Holz.
Gerade die Auseinandersetzung mit der reinen Natur scheint zu neuen Wegen, auch technischen Herausforderungen zu reizen. Die blaue Tulpe von Rosalie zieht den Blick des Betrachters geradezu magisch in das Bild hinein. Es glänzt durch Acrylglasgranulat, ist also hochgradig künstlich. Gerade dadurch fühlt man sich an die magische Anziehungskraft erinnert, die die Romantiker in der „blauen Blume“ gesehen haben: modernstes Material trifft auf dichterische Vision.
Natürlich reizt auch die bloße Opulenz von Blüten. Christian Rothmann hat sie mit dem Fotoapparat durch extreme Nahaufnahme eingefangen. Hildegard Fuhrer dagegen verzichtete nahezu ganz auf die farbige Blütenpracht und malte eine Art Nebenschauplatz in einem alten italienischen Garten: Ihr Bild kommt ganz mit Grüntönen aus.
So wird aus Blütenträumen eine spannende Auseinandersetzung mit künstlerischen Techniken.
„Wie Blüten geh’n Gedanken auf“. Galerie Schlichtenmaier, Schloss Dätzingen bis 26.9. 2020