Selbst heute steht sie in der weltweiten Statistik an der Spitze der tödlichen Infektionskrankheiten: die Tuberkulose, oder wie man früher sagte: Schwindsucht. Im 19. Jahrhundert, als die Bevölkerungsdichte vor allem in den Städten zunahm und es noch keine Impfung dagegen gab, starb in England bisweilen jeder vierte daran, vor allem in armen Kreisen. Dass sie auch die High Society nicht verschonte, zeigte auf der Opernbühne Giuseppe Verdi mit der von der gehobenen Gesellschaft zwar geächteten, gleichwohl in luxuriösen Verhältnissen lebenden Kurtisane Violetta Valéry. Der Situation in den armen Schichten widmet sich Giacomo Puccinis Oper La Bohème – und führt schon vom Titel her in eine französische Künstlerszene, die sich vom Bürgertum absetzte und meist unter Armut litt. Andrea Moses hat für die Staatsoper Stuttgart das Werk aus seinem im 19. Jahrhundert verhafteten Milieu befreit.
So ist Marcello, der Freund des Dichters Rodolfo, hier nicht nur Maler, sondern auch Videokünstler. Kameras und Mikrofone gehören bei ihm ebenso zum Handwerk wie die Spraydose – schließlich stammt das Bühnenbild von dem Graffitikünstler Stefan Strumbel, der in Marcello sein zweites Ich geschaffen hat, mit unvermeidlichem Schlapphut und Sonnenbrille. Es steht zwar auch noch ein Bollerofen herum, aber wenn Rodolfo sein Manuskript verbrennt, um ein wenig Wärme in die kalte Stube zu bringen, dann prasselt das Feuer als Videoinstallation.
Immer wieder lenkt Andrea Moses durch kleine Details auf große Wahrheiten. Wenn Mimi und Rodolfo ihre Arien singen, greifen sie in dieser Inszenierung zum Mikrofon. Das ist ein Seitenhieb auf den Klassikbetrieb von heute, in dem Weltstars einzelne Arien zusammenhanglos zu Recitals verknüpfen – die Arie als Showstück, und Andrea Moses macht damit deutlich, dass solche Arien in Puccinis Oper eigentlich Fremdkörper sind. Immer stärker hatte Puccini die traditionelle Arie aufgelöst zugunsten eines Klangkontinuums.
Das gilt auch schon für diese Oper, die ja im Titel bezeichnenderweise nicht auf die tragische Liebe zwischen Mimi und Rodolfo verweist, sondern auf das muntere Treiben der Pariser Künstlerbohème. Im 2. Bild tauchen die Figuren denn auch nur punktuell aus dem heiteren Weihnachtstreiben rund um das Café Momus auf, um gleich im Gesamtklang wieder unterzugehen. Hier fiel Andrea Moses allerdings nicht viel mehr ein als eine Ausstattungsrevue à la Hollywood.
Esther Dierkes (Mimi), David Junghoon Kim (Rodolfo). Foto: Martin Sigmund
Wenn wir im 3. Bild in das nächtliche Halbweltmilieu eintauchen, dann lässt der Zuhälter in der Stuttgarter Inszenierung seine Prostituierten aus einem Metallcontainer in den Puff. Auf dem Container steht mit der Spraydose geschrieben: Heimat loves you.
Der grandioseste Einfall dieser in sich schlüssigen Inszenierung findet sich im Schlussbild. Hier rafft die Schwindsucht Mimi nicht im einsamen Mansardenzimmer dahin. Die Künstler haben ihr Atelier inzwischen in eine Art Verkaufsgalerie verwandelt. Keiner achtet auf die dahinsiechende Mimi. Die Freunde um sie herum – und also auch Rodolfo – sorgten sich noch um Arznei für die Todkranke, die ihr doch nicht mehr geholfen hätte.
Esther Dierkes (Mimi), David Junghoon Kim (Rodolfo), Jarrett Ott (Marcello), Andrew Bogard (Schaunard), Aoife Gibney (Musetta), Adam Palka (Colline), Mitglieder der Statisterie der Staatsoper Stuttgart. Foto: Martin Sigmund
Nur das Opernpublikum sieht bereits die tote Mimi in Großaufnahme auf einer Videoleinwand: Mimi stirbt vor laufender Kamera. Die Freunde bemerken den lautlosen Tod Mimis nicht, desgleichen die übrigen Gestalten, die in dieser Inszenierung die letzte Szene bevölkern: Es sind Kunstfreunde, die sich in einer Galerie mehr gelangweilt nach Kaufbarem umsehen. Die Käufer, so die Botschaft dieser Szene, interessieren sich nicht dafür, unter welchen Bedingungen Kunst entsteht.