Es gibt Bilder von Künstlern, die deren künstlerische Biografie höchst unvollständig wiedergeben. So denkt man bei Otto Dix an die Bilder aus der Weimarer Republik, Szenen der sogenannten Goldenen Zwanziger Jahre, der Tänzerinnen, doch in Berlin und Dresden lebte und wirkte Dix keine zehn Jahre, dann zog er sich unter den Nazis nach Süddeutschland zurück und malte die folgenden drei Jahrzehnte ganz andere Bilder. Ähnlich liegt der Fall bei einem weiteren Vertreter der Neuen Sachlichkeit: Auch mit Rudolf Schlichter assoziiert man Bilder aus dem Berlin der Zwanzigerjahre, wo er u.a. Bertolt Brecht porträtierte. Doch wie Dix zog er sich, wenn auch aus anderen Motiven, nach stark zehn Jahren in seine schwäbische Heimat zurück. Was er da malte, zeigt jetzt eine Ausstellung in der Kunststiftung Hohenkarpfen.
Er wirkt ein wenig harmlos verglichen mit den Großstadtbildern, die Rudolf Schlichter in den Zwanzigerjahren malte – der Kornbühl bei Reutlingen mit der Kapelle auf dem Gipfel. In seinen ersten Jahren, die er nach seiner erneuten Hinwendung zum Katholizismus in Rottenburg verbrachte, machte sich Schlichter geradezu systematisch auf die Suche nach der Landschaft seiner schwäbischen Heimat. Er entdeckte die Wurmlinger Kapelle vor den Toren von Rottenburg, das Killertal bei Jungingen und eben die Salmendinger Kapelle. Er hielt alles mit dem Zeichenstift fest und übertrug es dann in Malerei. Aber ganz so harmlos, wie sie auf den ersten Blick wirken, sind diese Landschaften nicht. Schlichter, der in Berlin im Stil der Neuen Sachlichkeit gemalt hatte, übertrug diese Sichtweise auf sein neues Lieblingsmotiv. So wirken die Landschaften geradezu seziert und in ihrer Struktur exakt erfasst. Die Schichtung der einzelnen Felder bildet einen ganz eigenen Rhythmus.
Solche Landschaften mögen seiner neuen eher konservativen Weltanschauung entsprochen haben, reine Idylle aber sind sie nicht. Wie sehr sich Schlichter, der sich ins Berliner Gesellschaftsleben gestürzt hatte, jetzt mit der Natur identifizierte, zeigt ein Selbstbildnis, auf dem er gewissermaßen aus dem Tannenwald hervorsteigt.
Aber Landschaft findet sich bei ihm nicht nur als Selbstzweck. Immer wieder dient sie ihm als Hintergrund für Figurenbilder, etwa als er seine Frau Speedy als Madonna malte. Da bekommt das Bild seiner Frau, die er hier überhöht, geradezu symbolische Dimensionen. Es ist die Suche nach einer neuen Sicherheit, und zugleich eine Reminiszenz an die Kunstgeschichte, die einem Maler ja stets auch so etwas wie Heimat ist.
Landschaft kann in den Augen des Künstlers aber auch Schauplatz gewaltiger Dramatik sein. So kann er beim Betrachter mit dem Bild eines Höhleneingangs geradezu Beklemmung hervorrufen, und ein Baumstumpf wirkt auf den ersten Blick fast wie ein ungeheuerliches Lebewesen. Auf einer Zeichnung gestaltete er eine hochdramatische Katastrophenszene, in der zwei Menschen – der Künstler mit seiner Frau – hilflos den Gewalten der Natur ausgeliefert sind. Im Schwarzwald hielt er in einer Zeichnung ein Gespenst fest. Natur, Landschaft – das kann auch Dämonie sein, und dämonische Visionen haben Schlichter immer wieder verfolgt, meist nach Krisensituationen – oder visionär auch schon davor. So malte er unmittelbar vor Ausbruch des 1. Weltkriegs ein Bild mit dem Titel Der Sturm. Inspiriert von der Malweise der italienischen Futuristen scheint da die Welt in alle Himmelsrichtungen explodieren zu wollen. Drei Jahre danach entstand eine apokalyptische Landschaft mit einer Figurine, die gänzlich verloren im Chaos steht.
Zwei Jahre vor der Machtergreifung der Nazis, in den Endwirren der Weimarer Republik, malte er eine Vision zu Atlantis, jener legendären Stadt, die von Wasser überflutet wurde. Schlichter zeigt eine statuarische Figur, die bereits halb im Wasser steht, in dem unten tote Körper abgesunken sind, während ein Oktopus sich ganz in seinem Element fühlt – eine sarkastische Version des Themas Hybris und Untergang. Vor allem das Erlebnis der Naziherrschaft hat ihn zu Bildern inspiriert, in denen die Landschaft Schauplatz grausiger Geschehnisse ist. Ein Würger liegt wie ein vielbeiniges Insekt auf einer nackten Felsplatte und greift sich Schädel von einem Leichenhaufen.
Im seinem Gestade der Verlassenheit wird ein menschlicher Schädel mit erblindeten Augen in einer Felsspalte nahezu zerquetscht, derweil ein Schimmel – Anspielung an die apokalyptischen Reiter – eilends davongaloppiert.
Kein Wunder, dass Schlichter sich nach diesen Ereignissen und Visionen in seinen letzten Lebensjahren eine geradezu idyllische Landschaftswelt herbeigeträumt hat. In lichten Blautönen erheben sich da Bergzüge – unberührt von Menschenhand und unzerstört. Es waren diese Landschaften Ausdruck einer Sehnsucht, die er im Tagebuch einen Tag nach der deutschen Kapitulation festhielt. Nach all den Katastrophen, meint er da, brauche der Mensch ein „Panorama von Glücksaussichten, eine Verheißung“. Landschaft kann auch versöhnlich sein, muss es aber nicht.
So fand Schlichter, den man immer noch in erster Linie mit seinen Jahren in Berlin assoziiert, gerade anhand der Landschaft zu verstörenden Bildern, die Ausdruck eines wachen Zeitgenossen waren, der die Dinge sieht, wie sie sind, schonungslos und entsetzt.
„Idylle und Apokalypse. Rudolf Schlichters Landschaften“, Kunststiftung Hohenkarpfen bis 21.7.2019. Katalog 108 Seiten, 22 Euro