Bei Mozart heißt er Cherubino und ist in Wirklichkeit eine Sie, bei Strauss nennt die Marschallin ihren Octavian „Kindchen“ und tollt mit einer Mezzosopranistin im Bett: Hosenrollen nennt man derlei, es hat Tradition, und niemand denkt sich dabei etwas. Ganz anders ist es auf der Sprechbühne, und erst recht, wenn nicht Frauen die Hosen anhaben, sondern Männer in Frauenkleider schlüpfen. Zwar hatten berühmte Schauspieler damit Erfolg wie Dustin Hoffman als Tootsie und Peter Alexander als Charleys Tante, doch da ist der Rollentausch immerhin handlungsbedingt und auf Zeit; nicht so derzeit am Schauspiel Stuttgart in Eugene O’Neills Theaterstück Eines langen Tages Reise in die Nacht.
Skepsis war also angebracht, und zu Beginn gab es auch einige belustigte Lacher im Publikum, denn Regisseur Armin Petras hat die Rolle der Mutter in diesem Stück mit einem Mann besetzt. Doch nach wenigen Minuten hörten die Lacher auf und danach fragte man sich gar, wer, wenn nicht dieser Schauspieler, diese Rolle besser hätte spielen können, denn Peter Kurth verzichtete auf jegliche Travestie, gestaltete diese Mutter, die am frühen Tod ihres zweiten Kindes und unter der Prahlerei und dem Geiz ihres Mannes sowie der Schwindsuchterkrankung ihres Jüngsten zerbricht und nur mit Morphium über die Runden kommt, subtil, feinnervig und robust zugleich, schließlich ist sie die Figur in diesem Stück, die noch am ehesten die eigentlichen Realitäten anerkennt. Alle anderen geben sich Täuschungen hin. Allen voran der Vater, der Schauspieler James Tyrone, der nur zu gerne ein großer Shakespearemime geworden wäre, es aber nur zum belanglosen Rührstückakteur geschafft hat. Edgar Selge verleiht ihm ähnlich leise, vielschichtige Töne wie Kurth der Figur seiner Frau. O’Neill verarbeitete in diesem Stück eigene traumatische Erlebnisse in seiner Kindheit, als die Familie unter einem Vater zu leiden hatte, der als Schauspieler frühe Erfolge gefeiert hatte, und am Ende jahrzehntelang als Graf von Monte Christo durch die Provinz tingelte. Petras fügt diese privaten Hintergründe in einer zusätzlichen Szene in seine Inszenierung ein und schenkte Selge einen Höhepunkt an Tragikomik.
So fein, intim hat man eine Inszenierung von Petras selten gesehen. Hinzu kommt das Bühnenbild von Aleksandar Denić.
Foto: Thomas Aurin
Er lässt auf der Drehbühne das Interieur der Behausung dieser Familie ständig abwechseln mit dem Schiffskörper der Titanic. Im April 1912 kollidierte sie mit einem Eisberg und sank, im August 1912 spielt O’Neills Stück. Auf der Rückseite des stählernen Schiffsrumpfes hat Denić ein feudales Interieur aufgebaut jenem vergleichbar, wie es auf dem Luxusdeck des Ozeandampfers inszeniert worden war. Und wie von einer Art Schiffsflagge wird das alles überstrahlt von einer in Neonfarben erglühenden Fackel, dem Symbol des Erdölunternehmens Standard Oil. Petras bringt so mit dem Bühnenbild zwei Symbole des Glaubens an Erfolg, Zukunft und Siegeszug der Technik in seine Inszenierung ein, die heute längst an Glaubwürdigkeit verloren haben und an die auch schon Eugene O’Neill nicht mehr geglaubt hatte, als er 1940 dieses Stück schrieb – im Gegensatz zu dem Personal seines Stücks, das sich zumindest lange Zeit den Glauben an ein „es wird schon alles gut werden“ nicht nehmen lassen will. Dass sich hier nichts mehr zum Guten wenden wird, machen allerdings schon die zahlreichen Tischlampen deutlich, die allesamt aus Flaschen gebaut sind, die einstmals Alkoholisches enthalten hatten.
Das feudale Interieur passt zwar nicht zur „Bruchbude“, als die die Sommerresidenz dieser Familie von den Söhnen empfunden wird, doch gibt sie eine ideale Folie ab für den Niedergang, der längst schon eingesetzt hat. Der ältere Sohn ist ein Trinker und Möchtegerncharmeur, der jüngere ein erfolgloser Dichter, der am liebsten sein Leben auf See zugebracht hätte. Die Mutter ist seit dem frühen Tod ihres zweiten Sohnes vom Morphium abhängig. Ihre Schuldgefühle ob dieses Verlustes und des drohenden ihres jüngsten Sohnes, der an Schwindsucht leidet, lässt Petras auf der Bühne Gestalt werden in Form einer grauen Geistergestalt, die später auch mit bunten Tüchern Schamanenzüge annimmt: Die Vergangenheit liegt wie ein Menetekel über dieser Familie.
Leider hat Petras zu dieser Subtilität bei den übrigen Figuren nicht gefunden. Da verfiel er wieder in den Fehler, Gebrüll mit Dramatik zu verwechseln, und Peter René Lüdicke als dauerversoffener älterer Sohn muss chargieren, als hätte er sich von einer Berliner Schmierenbühne ins Schauspiel Stuttgart verirrt. Manolo Bertling kann seine deplorable gesundheitliche Situation allenfalls durch Hustenanfälle demonstrieren, und wenn er bei O’Neill seinen Träumen als Dichter und Seemann nachhängt, darf er das bei Petras lediglich banal ins Mikrophon aufsagen.
Auch seinem Hang, Regieeinfälle, die während der Proben zum Lachen aller Beteiligten animiert haben mögen, zu Szenen mit übergroßem Eigengewicht aufzublähen, hat er nicht widerstehen können. So führt Julischka Eichel als Hausmädchen einen ewig langen skurrilen Balztanz vor dem von ihr verehrten älteren Tyrone-Sohn auf, der so gar nicht zu dem eigentlichen Wesen dieser Figur passt. So verliert die Aufführung über weite Strecken innere Substanz, und man wünscht sich alsbald, das Personal des Stückes würde sich wie bei Strindberg auf das Ehepaar beschränken, gespielt von Edgar Selge und – unvergesslich und ganz ohne Mätzchen – Peter Kurth.