In der Nacht sollen zwar alle Katzen grau sein, doch keine Tageszeit dürfte derart voller Geheimnisse und Zwischentöne sein wie die Zeit zwischen dem Einschlafen und dem Aufwachen. In der Malerei ist es der Bereich des Hell-Dunkel, was nicht heißen muss, des Schwarz-Weiß, in der Literatur ist es das Reich des Geheimnisvollen, auch des Schauders, der Gefahr, in der Musik ist es die Welt der klanglichen Raffinesse, der leisen Töne, der vagen Emotionen. Das Stuttgarter Ballett versucht nun mit einem neuen Programm, die Nacht in Tanz zu definieren.
Seid leise, scheint uns Edward Clug zuzuraunen, Ssss… herrscht er uns im Titel seines 2012 für das Stuttgarter Ballett entstandenen Stückes an, aber nicht gebieterisch: „sssst“, sondern ohne scharfes Ende, offen mit drei kleinen Punkten. So scheint sein Nachtstück denn eher zu schweben. Es ist ein Stück des Abwartens, des langsamen Hineingleitens in Aktion und Hinausgleitens ins Warten.
Wir scheinen hier einer konventionellen Ballettprobe beizuwohnen: Sechs Tänzer sitzen verstreut im Raum, warten auf ihren Einsatz, der Pianist intoniert Chopin, natürlich Nocturnes. Zwei Tänzer gehen auf die Tanzfläche und beginnen einen klassischen Pas de deux – meint man. Aber irgend etwas stimmt nicht, die Bewegungen wirken gelegentlich verfremdet, zwischen den Tänzern scheint echtes romantisches Gefühl aufzukeimen – was es bei Ballett nicht geben sollte.
Ähnlich transformiert Clug auch in den weiteren Sätzen seiner Choreographie das klassische Bewegungsrepertoire. Männer übernehmen plötzlich den Part, den üblicherweise Frauen tanzen, schließlich lassen zwei Tänzer die Partnerin buchstäblich links liegen bzw. stehen und sind sich selbst genug. Und damit ist es nicht ein Werk, in dem es um den Tanz geht, sondern ein Werk, indem eine Zwischenwelt auf der Bühne evoziert wird. Immer wieder bewegen sich die Tänzer wie im Alltag, gehen, statt zu schreiten, setzen sich ganz normal hin, um dann unvermittelt zu Tanzschritten zu wechseln. Clugs Notturno ist angesiedelt zwischen Leben und Kunst, wechselt zwischen Alltag und Tanz und ist so vergleichbar der Nacht, die ein Zwischenreich ist zwischen dem Gestern und dem Morgen.
Ganz anders ist es bei Jiří Kylián. 1989 schuf er seine Choreographie Falling Angels, ein Stück ausschließlich für Tänzerinnen, die aber, ähnlich wie bei Clug, nicht bei dem bleiben, was die Tanzsphäre ihnen üblicherweise vorschreibt. Wie Hundertmeterläuferinnen laufen sie auf das Publikum zu, aber in Zeitlupe, und schon in den ersten Sekunden schafft Kylián jene Doppelbödigkeit, die uns vom Traum her bekannt ist, in dem wir nicht selten fliehen wollen (wovor?), und doch nicht von der Stelle kommen. Vertraute Bewegungen wie Schritte, Drehungen, Armeheben werden unmerklich verändert – Kylián greift in jeder Sekunde seines Werkes die feinsten rhythmischen Veränderungen auf, die Steve Reich in seinem minimalistischen Schlagzeugstück Drumming Part 1 meisterhaft einsetzt. So wie die Musik auf der Stelle zu treten scheint und sich doch ständig verändert, verwandeln sich die Bewegungsfolgen bei Kylián, loten Extreme aus – auch inhaltlich, denn acht Tänzerinnen treten zwar immer wieder als Gruppe uniform auf, sondern sich aber immer wieder einzeln aus der Gemeinsamkeit aus, suchen eigene Wege, und scheitern dabei nicht selten: Falling angels eben, hin zur Subjektivität, aber vielleicht damit auch weg von der Perfektion dessen, was sie eigentlich tun sollten. Es ist ein Stück um Gewalt den anderen, aber auch sich selbst gegenüber – mimisch und gestisch, aber stets nur in subtilen Andeutungen.
Es ist eine von hämmernden Rhythmen geprägte düstere Welt, ein Nachtstück der ganz eigenen Art. Fünfzehn Minuten dauert es, keine Sekunde zuviel, und doch wünscht man sich zugleich, es möge ewig weitergehen. Ein Meisterwerk, aktuell und unter die Haut gehend auch knapp drei Jahrzehnte nach seiner Entstehung.
Diese Präzision der Aussage erreicht Louis Stiens nicht, vielleicht weil er sich mit dem Titel ein allzu vages Feld abgesteckt hat. „Qi“ heißt seine neue Arbeit, ein Begriff aus dem Chinesischen, der so viel wie Energie, Atem bedeutet. Es ist eindrucksvoll, welches Spektrum an Körperbewegungen und Bewegungsabläufen Stiens in diesem knapp halbstündigen Stück auf die Bühne bringt. Der Titel ist in der Tat gut gewählt, es geht um Energie, Energie, die ganz aus dem Körper kommt. An einer Stelle blickt ein Tänzer seine hochgereckte Hand an, aus der es offenbar strahlt, denn sein Blick folgt dem, was aus den Fingern zu emanieren scheint, in die Luft, wo die Energie verpufft. Dieses Entstehen von Energieströmen und Vergehen von innerer Spannung zieht sich durch das Stück. Die für Stiens, der gerne Technomusik hört und verwendet, ungewöhnliche barocke Musik von Johann Heinrich Schmelzer liefert den Tänzern dafür die notwendigen Affekte und ständigen rhythmischen und atmosphärischen Wendungen.
Wie bei Kylián geht es nicht selten um Aggression wie bei Clug um Anziehung und auch wieder Abstoßung, es geht um hypnotische Kraft, um die Ausdrucksstärke tänzerischer Bewegung, doch ist der Rahmen zu weit gesteckt, als dass sich die einzelnen, sich oft sehr schnell abwechselnden Ausdrucksphasen zu einem Ganzen fügten. So ist auch wenig nachvollziehbar, weshalb das Stück am Ende von der Barock- zur elektronischen Musik wechselt. Ein so hinreißend logischer wie witziger Schluss, wie ihn Edward Clug für sein Nachtstück fand, fehlt hier denn auch. Bei Clug bindet sich eine Tänzerin am Ende einfach den Spitzenschuh auf. Der Tanz ist vorbei, die Nacht zuende, der neue Tag beginnt.