Geschundene Leiber, verzerrte Perspektiven, der Mensch als Opfer – als Opfer des Lebenskampfes, aber auch als Opfer seiner Begierden: Francis Bacon hat wie kaum ein zweiter Maler die Gewalt, die das 20. Jahrhundert geprägt hat, in seiner Malerei zum Ausdruck gebracht. So präsentierte die Staatsgalerie Stuttgart den Jahrhundertmaler vor dreißig Jahren, und schon damals deutete sich ein zweiter Aspekt an: Bacons Gestalten leiden nicht nur an sich selbst, sie leiden auch an ihren Lebensumständen. Sie sind Gefangene. Jetzt legt eine neue Ausstellung in der Staatsgalerie den Fokus auf eben diese Situation des Gefangenseins und eröffnet Dimensionen im Werk Bacons, die ihn zu Recht als einen der größten Maler des 20. Jahrhunderts ausweisen, nicht nur wegen seiner Inhalte.
„Kauernder Akt“ heißt ein Bild aus dem Jahr 1951, Bacon war da Anfang vierzig. Man kann durchaus eine menschliche Figur ausmachen, doch ist sie mit nur wenigen weißen Pinselstrichen angedeutet. Das ist das Porträt eines energiegeladenen, kraftvollen Menschen und zugleich die Darstellung seiner Auflösung: Eros und Thanatos finden sich auf Bacons Bildern Seite an Seite. Sein eigenes Leben bot ihm hierfür Stoff genug: Sinnlichkeit, körperliche Begierde, starke Emotionen, Scheitern von Beziehungen – all das findet sich in einem Triptychon, das den Besucher dieser Ausstellung empfängt. Es zeigt Bacons Geliebten John Dyer bei Alltagsverrichtungen – beim Rasieren, beim Zeitungslesen. Doch der Körper ist seltsam verkrümmt, er scheint nur aus Haut zu bestehen, allen Gefährnissen schutzlos ausgesetzt, ein Opfer der Umstände. Das ist ein Motiv, das sich durch Bacons gesamtes Schaffen zieht.
In den 50er Jahren porträtierte er einen Geschäftsmann – seriös gekleidet mit Anzug, weißem Hemd und Krawatte. Im Hintergrund ist eine Art Tapete mit Streifenmuster angedeutet, doch diese Streifen können auch gedeutet werden als Stäbe eines Käfigs: Der Geschäftsmann ist ein Gefangener seiner Berufswelt; kein Wunder, dass Bacons Figuren immer wieder mit weit aufgerissenem Mund porträtiert sind. Nach Edvard Munch dürfte kein anderer Künstler den Menschen derart intensiv mit einem Gesichtsausdruck dargestellt haben, der der Inbegriff des Entsetzens ist.
So stellte Bacon auch den Papst dar, nach einem Gemälde von Velazquez – und, in der Stuttgarter Ausstellung gleich gegenüber platziert: Affen in ihrem Käfig. Der Mensch als Objekt in einem unentrinnbaren Gefängnis.
Aber auch der Mensch als Inbegriff körperlicher Sexualität. Auch das zeigt das Eingangstriptychon. Die Körper sind nicht selten nackt, Ausdruck der Begierde, aber auch der Schutzlosigkeit. Da wirkt es nur konsequent, wenn der Schrei eines von Bacons wichtigsten Motiven ist, der Schrei und die bloße Existenz, animalisch wie die der Affen im Käfig – oder der Päpste auf ihrem Thron.
Entscheidend aber, und darauf verweist diese Ausstellung bereits in ihrem Titel, ist die Tatsache, dass Bacon fast nie die Figuren an sich sich porträtiert. Stets sind sie eingebunden in einen Raum. Bei dem Geschäftsmann der 50er Jahre changiert dieser Raum zwischen Büro und Gefängnis, auf anderen Bildern, den meisten sogar, fehlt diesem Raum jeglicher Realitätsgehalt. Meist zieht ihn Bacon mit wenigen Strichen in seine Gemälde ein, als übe er sich in geometrischer Raumkonstruktion. Es sind Räume, die die Körper einengen – die Körper wollen sich dem entgegenstemmen, scheinen die Gefängnisse sprengen zu wollen, was ihnen aber nicht gelingt, und durch die geometrische Konstruktion wird der Betrachter selbst in diese Räume hineingezogen. Er wird Teil des Bildes und bleibt doch immer zugleich auch Betrachter, Voyeur. Auf einem weiteren Triptychon – Bacon liebte diese traditionelle Form – findet er sich gewissermaßen stellvertretend im Bild in Gestalt eines Kameramanns wieder, der durch einen Türspalt ein erotisches Geschehen filmt. Der Geschlechtsakt findet dabei auf der mittleren Bildtafel auf einem Podest statt wie in einem Varieté. Bacons Figuren sind stets auch schutzlos ausgesetzt den Blicken der Umwelt, so privat und intim sie sich auch gebärden mögen.
Vor allem aber gelingt Bacon mit diesen geometrisch angedeuteten Räumen die Quadratur des Kreises. Immer wieder fügt er Fluchtpunkte in seine Bilder, die mit dem dargestellten Inhalt nichts zu tun haben – oft sind es auch gleich mehrere, die das Auge des Betrachters verunsichern, so wie auch seine mit dünnen Linien angedeuteten geometrischen Raumkonstruktionen alles andere als perspektivisch korrekt sind. Auf diese Weise gelingt ihm die Darstellung mehrerer Perspektiven gleichzeitig. Was Picasso mit den Gesichtern seiner Porträtierten gemacht hat, vollendet Bacon mit ganzen Figuren und Raumkontsruktionen. Daher meint man auch, seine Figuren stets in Bewegung zu sehen. Was sich auf den ersten Blick als verkrümmte Haltung darbietet, ist in Wirklichkeit im Bild festgehaltene Bewegung in mehreren Phasen.
So erweist sich Bacon als Erbe und Fortschreiber wichtiger Tendenzen der Malerei der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch das macht diese Ausstellung deutlich. Als einer der wenigen hielt er nach dem 2. Weltkrieg an der figurativen Malerei fest, so modern seine Figuren auch inhaltlich gedeutet sein mögen – und schuf doch zugleich reine, abstrakte Malerei. Die Bildhintergründe seiner späteren Bilder sind glatt gepinselt. Das sind keine Wände von Räumen, das sind abstrakte Farbflächen. Seine Figuren stolpern nicht in Räume, sondern sind in abstrakte geometrische Farbflächen verstrickt. Immer wieder finden sich in die Leinwand hineingeschleuderte weiße Farbwischer – informelle Malerei auf einem figurativen Bild!
Bacons „unsichtbare Räume“ – unsichtbar für die Figuren, die sich darin befinden, sichtbar nur für die Betrachter der Bilder – bilden zugleich die Synthese von gegenständlicher und abstrakter Malerei. So zeigt die Ausstellung Bacon in einer Vielfalt von Dimensionen, die ihn als singuläre Figur in der Kunst der Gegenwart deutlich machen, auch heute noch, über zwanzig Jahre nach seinem Tod.
„Francis Bacon. Unsichtbare Räume“, Staatsgalerie Stuttgart bis 8.1.2017, Katalog 256 Seiten 24.90 Euro