Zwischen Augenblick und Ewigkeit – die Zeit im Kunstmuseum Reutlingen / konkret

Einszweidrei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit“ befand Wilhelm Busch pessimistisch. Ein ähnliches Gefühl mag man bei Goethes Faust vermuten, wenn er dem Augenblick ein „Verweile doch“ zurufen möchte. Die Zeit, die wir als flüchtige Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft erleben, war immer wieder Thema der bildenden Kunst, sei es als Stillleben, das die Franzosen treffend „nature morte – tote Natur“ nennen, sei es als flüchtiger Sinneseindruck, den die Impressionisten festzuhalten versuchten. Das Kunstmuseum Reutlingen / konkret zeigt, was Künstler von heute mit diesem Phänomen anfangen: Vom Verrinnen. Zeitkonzepte der Gegenwartskunst.

Was aussieht wie eine Komposition aus bläulichen und gräulichen Farbstreifen ist in Wirklichkeit das Portrait eines Tages, genauer gesagt des 28. Juni 2010. An diesem Tag hat die Fotografin Inge Dick zwischen 4.05 Uhr und 20.06 Uhr in unterschiedlichen Abständen den Himmel fotografiert. Die farbigen Bilder hat sie in Form von Streifen nebeneinander zu einem neuen Bild komponiert. Das ist Zeit schlechthin zu einem Bild geronnen.

Einen ganz anderen Prozess des Gerinnens von Zeit hat Bernard Aubertin vorgeführt. Er hat in Abständen eine Bildfläche immer wieder mit weißer Farbe bemalt. Die Farbe an den Rändern wurde in den Pausen hart, und auf diese Weise wuchs die Farbfläche weit über die eigentliche Bildfläche hinaus. Das ist der Malakt, also reine Zeit, zu Materie geronnen.

Um Zeit geht es auch Dimitry Orlac. Er hat quadratische Flächen mit Graphitstiften schraffiert und so in grau- schwarze Bilder verwandelt. Die Zeit, die er dazu brauchte, um dieses Bild fertigzustellen, hatte er exakt in einem Protokoll festgehalten: wie viele Stunden pro Tag, welche Stunden am Tag. Dieses Protokoll ist Teil der Arbeit. Der dritte Teil der Arbeit ist der Abfall, der beim Spitzen der Graphitstifte zustande kam; ihn stellt Orlac vor dem Bild in kleinen Plexiglaswürfeln aus: So haben wir den gesamten Arbeitsprozess eines Kunstwerks dokumentiert; der Betrachter kann nachvollziehen, wie viel Zeit es gekostet hat, dieses Bild herzustellen, und der Künstler kann im Nachhinein nachvollziehen, wie er diese Zeit erlebt hat.

Denn darum geht es den Künstlern in erster Linie. Zeit kann man natürlich als objektives Phänomen betrachten: Man kann sie messen, z.B. mit Uhren. Das finnische Künstlerduo Tommi Grönlund und Petteri Nisunen haben ein solches Zeitmessgerät, nämlich das Uhrwerk einer Armbanduhr, unter einem Vergrößerungsglas ausgestellt. So sehen wir alles, was zum Zeitmessen notwendig ist: Wir sehen die Rädchen, die exakt ineinandergreifen, um den Zeitverlauf deutlich zu machen. Aber es fehlt doch das, was uns Benutzern dieser Zeitmessgeräte dazu dient, die Zeit abzulesen: es fehlen Zifferblatt und Zeiger. Damit ist diesem Zeitmessgerät gewissermaßen das Wesentliche abhanden gekommen: die Zeit.

Die Zeit, und das interessiert die meisten Künstler, begegnet uns allerdings weniger als objektiv messbares Phänomen denn vor allen Dingen als erlebte Zeit. Diese erlebte Zeit kann sehr langsam vergehen. John Woodman hat im Film einen Novembermorgen festgehalten. Die Sonne ist bereits aufgegangen, aber Nebelschwaden ziehen noch zwischen den Bäumen umher, erste Vögel beginnen zu zwitschern. Ganz langsam bewegen sich Äste und Nebelschwaden, und langsam steigt auch die Sonne als heller Ball am Horizont empor. Das ist Erlebnis der Naturzeit, die ganz eigenen Gesetzen folgt verglichen mit der erlebten Zeit der Menschen.

Diese erlebte Zeit der Menschen, so macht Timo Klos deutlich, ist nur sehr schwer zu greifen. So hat er die beiden letzten Tage, die er mit seiner Freundin im Urlaub verbrachte, festzuhalten versucht. Er hat alle Stationen dieser zwei Tage noch einmal mit der Kamera nachgestellt und dabei die Belichtungszeit exakt der realen Zeit nachgestellt– also neun Stunden Schlaf, zwölf Minuten Duschen, zwanzig Minuten Sex. Durch die unterschiedliche Belichtungszeit sind die Bilder unterschiedlich scharf bzw. unscharf geworden. Der Versuch, die erlebte Zeit festzuhalten, führt offenbar dazu, dass das Erlebte entgleitet.

Ein ähnliches Paradox fand Klos am Meeresstrand. Er hat Hunderte von Fotos von der Meeresoberfläche hergestellt und nebeneinander gehängt. Was wir sehen, ist nicht das Meer, wir sehen lediglich unterschiedliche Zustände der Wellen auf dem Meer. Das Verstreichen der Zeit, das Klos bei diesem Versuch, das Phänomen fotografisch festzuhalten, auch erlebt haben muss, geht bei der fotografischen Fixierung verloren.

Dabei ist gerade das Verstreichen der Zeit, das „Verrinnen“, wie der Ausstellungstitel lautet, ein wesentlicher Faktor des Zeiterlebnisses, wie schon Wilhelm Busch feststellte: Einszweidrei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit – und bekommen es möglicherweise mit der Angst zu tun wie die Fotografin Manuela Kasemir.

Sie hat sich im Abstand von mehreren Jahren vor einem Spiegel fotografiert, mit nacktem Oberkörper, das Gesicht dem Spiegel zugewandt, der jedoch blind ist. In den Händen hält sie einen Faden, der den Schriftzug bildet: afraid of death, Angst vor dem Tod.

Doch auch sie gehört zum Verrinnen der Zeit, wie Timo Klos mit einer anderen Fotoarbeit deutlich machte: Er hat alte Schwarz-Weiß-Fotografien auf eine altmodische Wohnzimmertapete platziert. Doch anstatt die Menschen zu porträtieren, geben diese Fotos das Gegenteil wieder: Menschliche Figuren sind verschwommen, gelegentlich ganz verschwunden, und haben lediglich ein Kleidungsstück hinterlassen, oder die Menschen schließen die Augen, schalten die Welt, und damit auch die Zeit, gewissermaßen aus. Dem Verrinnen der Zeit und damit auch der Welt freilich können sie dadurch nicht entgehen.

Vom Verrinnen. Zeitkonzepte der Gegenwartskunst“, Kunstmuseum Reutlingen / konkret bis 28.8.2022. Katalog 207 Seiten

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