Strümpfelbach im Remstal könnte auch Nussdorf heißen, denn der hier lebende Bildhauer Karl Ulrich Nuss hat vom Ortskern bis hinauf in die Höhen der Weinberge über vierzig Plastiken aufgestellt – von seinem Vater Fritz Nuss, seinen Enkeln, vor allem aber von sich selbst. Da finden sich Gestalten aus der Mythologie wie die „Daphne“, deren nach oben gereckte Arme zu Baumzweigen mutieren, witzige Figuren wie der „Späher“, der hoch auf einer Säule hockt und ins Remstal blickt, und immer wieder Figuren wie du und ich, ein „Zeitungsleser“ beispielsweise.
Oft meint man, die Skulpturen von Karl Ulrich Nuss seien dem Alltag entsprungen: realistisch gestaltete Figuren in Alltagssituationen. Aber der Eindruck täuscht. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, wie genau diese Plastiken gebaut, strukturiert, ja geradezu geometrisch exakt ausbalanciert sind – und immer wieder stößt man auf bewusst eingesetzte Irritationen. Vor seinem Atelier beispielsweise versucht eine Figur, einen hohen Absatz zu erklimmen, und eine zweite, die bereits dort angekommen ist, hilft ihr dabei und zieht sie hoch. Dabei würde normalerweise die obere Figur der unteren das Gesicht zuwenden und die Hände hilfreich entgegenstrecken; bei Nuss dagegen zeigt die obere Gestalt dem Hilfesuchenden das Hinterteil und reicht mit den Armen durch die Beine nach unten. So kippt der anfängliche Eindruck des Realistischen um in Witz, und zugleich kann Nuss perfekt die Körpervolumina austarieren.
Das zeigt sich auch bei seinen Gestalten, die über einen deutlich ausgeprägten Bauch verfügen. Er findet stets im Gesäß ein Gegengewicht. Damit sind seine Plastiken, so sehr sie dem Alltag auch entwachsen zu sein scheinen, rein künstliche Gebilde, die genauen Kompositionsüberlegungen folgen, ein Spannungsgefüge der Formen und Kräfte vorführen, und daher vom Betrachter ein genaues Hinsehen erfordern.
Außerdem belässt es Nuss oft nicht bei den Figuren, er gibt ihnen eine Art Umfeld bei, stellt sie in eine Situation. So lehnen seine Figuren häufig an einer Art Wand. Aber auch diese situativen Elemente sind nicht realistisch gestaltet, sondern bilden eher abstrakte Pendants zu den figürlichen Plastiken, die sich daran lehnen. In letzter Zeit lässt er sogar seine Figuren andeutungsweise aus einer rechteckigen Bronzeplatte herauswachsen. Zudem hat er in die Bronzeplatte andeutungsweise die Muskeln der Figuren eingeritzt. So verbindet er drei Gestaltungsweisen in einer einzigen Arbeit: Zeichnung, Relief und Vollplastik.
Am deutlichsten kann man dieses Zusammenspiel von Realismus und genauer Ausbalancierung der Formen an einer Plastik ablesen, in der zwei menschliche Figuren miteinander zur Einheit zusammengeführt sind. „Ineinander“ heißt sie bezeichnenderweise: Die beiden Köpfe sind miteinander verschmolzen, die Körper und Beine sind genau konstruiert nach dem Prinzip von Gewicht und Gegengewicht.
Daher ist es auch aufregend, diese Skulpturen zu umkreisen. Nuss macht mit seinen Arbeiten deutlich, dass es von einer Plastik nicht eine Ansicht gibt, sondern unzählige. Mit jedem Schritt, den man um diese Figuren herum vollzieht, verändert sind die Gestalt. Obwohl Bronzeplastiken von Natur aus statisch sind, erwecken die Arbeiten von Karl Ulrich Nuss den Eindruck von Bewegung, sie wirken geradezu lebendig.
Außerdem verzichtet Nuss häufig darauf, seine Bronzeplastiken glatt zu schleifen und zu polieren. Seine Arbeiten machen deutlich, dass am Anfang des künstlerischen Prozesses der Ton steht. Aus kleinen Tonbatzen setzt Nuss Schritt für Schritt seine Plastiken zusammen, die dann in Bronze gegossen werden, und dieses Konstruktive ist der späteren Bronzeplastik noch anzusehen. Nuss nimmt während des Gestaltungsprozesses nicht wie ein Bildhauer Überflüssiges vom Material – etwa einem Steinblock – weg, er baut seine Figuren aus kleinen Elementen auf – Addition statt Subtraktion. Die Oberflächen wirken wie von Hand modelliert, was sie letzten Endes ja auch sind. So ermöglichen seine Plastiken zugleich eine perfekte Aufklärung darüber, wie eine Bronzeplastik entsteht. Arbeitsprozess und fertiges Produkt bilden eine Einheit, und spätestens hier wird deutlich, dass die Plastiken von Karl Ulrich Nuss zwar dem Alltag entsprungen zu sein scheinen, aber hochkomplexe artifizielle Kunstobjekte sind – ein Spagat zwischen Realismus und Abstraktion.
Hinweise zum Skulpturenpfad finden sich im Internet
https://www.weinstadt.de/de/Freizeit+Kultur/Wein–und-Skulpturenpfade/Skulpturenpfad-Str%C3%BCmpfelbach
Zu Karl Ulrich Nuss findet sich auf Youtube ein Film von Horst Simschek und mir