Vor sechzig Jahren schuf Jürgen Rose in Stuttgart das Bühnenbild zu John Crankos Ballett Romeo und Julia. Es war der Auftakt zu einer intensiven Zusammenarbeit mit diesem inzwischen legendären Choreographen bis zum frühen Tod von Cranko und der Beginn einer Weltkarriere des Bühnen- und Kostümbildners Rose. Jetzt hat er mit Tschaikowskys Nussknacker wieder Bühnenbild und Kostüme für das Ballett in Stuttgart kreiert – und auch mit 85 Jahren ist die Fülle seiner kreativen Fantasie grenzenlos.
Ensemble © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Der Nussknacker ist ein Weihnachtsmärchen, daran lässt Rose keinen Zweifel, und der gewiefte Bühnenbildner lässt nahtlos einen Weihnachtsmarkt in die gute Stube der Familie Stahlbaum mit dem geschmückten Weihnachtsbaum übergehen, unter dem die kleine Clara von ihrem Patenonkel Drosselmeier unter anderem einen hölzernen Nussknacker geschenkt bekommt. Die Verwandlungen in dieser Produktion wirken wie von Zauberhand ausgeführt.
Was Edward Clug tänzerisch zu dieser eleganten szenischen Verwandlung eingefallen ist, wirkt allerdings ungewöhnlich bieder, pantomimenhaft und steif, erstaunlich bei diesem Choreographen, der sonst feinste Regungen zwischen Tänzern auszutarieren weiß. Vielleicht wollte er damit szenisch andeuten, was E.T.A. Hoffmann in seinen Dichtungen oft als bürgerliches Philistertum anprangerte, denn auf Hoffmann, den Erfinder dieser Märchengeschichte um einen jungen Mann, der in einen Nussknacker verwandelt ist und durch die Zuneigung eines Mädchens wieder erlöst wird, bezieht Clug sich ausdrücklich und nicht auf die von Alexandre Dumas für das französische Lesepublikum stark verwässerte Version dieses Märchens, die wiederum dem legendären Choreographen Marius Petipa vor hundertdreißig Jahren für dessen Ballettlibretto diente. Doch nur um diese biederbürgerliche Welt zu skizzieren, ist dieser Akt zu lang. Christian Spuck war gut beraten, als er diesen, wie er formulierte, etwas langatmigen Akt für seine Version in Zürich stark kürzte.
So versucht Clug denn auch, die Fallstricke dieser Ballettversion zu vermeiden, vor allem das im 2. Akt für das damalige Ballett unabdingbare aus mehreren kurzen Tanzeinlagen bestehende Divertissement mit seinen chinesischen, arabischen und russischen Tanzeinlagen und dem farbenreichen Tanz der Zuckerfee.
Diesen Tanz nutzt Clug als Entree zum 2. Akt, der den Zuschauer damit auch klanglich in eine ganz andere Welt als die des biedermeierlichen Weihnachsfestes entführt. Sind die Stücke dieses Divertissements in Petipas Version lediglich eine Reihe von Tanzdarbietungen im Schloss des Prinzen, so markieren sie hier die verschiedenen Etappen einer Reise hin zu diesem Prinzen, in den sich der Nussknacker inzwischen verwandelt hat.
Was Clug hier mit Hilfe von Jürgen Roses Kostümen auf die Bühne zaubert, ist ein wahrer weihnachtlicher Gabentisch. All die Spielsachen von Clara und ihrem Bruder Fritz erwachen hier zu tänzerischem Leben, bis hin zu zwei von zwei Tänzerpaaren in entsprechenden Kostümen grandios gemimten Kamelen.
Friedemann Vogel, Jason Reilly © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Auch in diesem 2. Akt entfernt sich Clug wohlweislich von dem ursprünglichen Libretto, denn da hat jener Patenonkel Drosselmeier längst seine Schuldigkeit getan und taucht nicht mehr auf. Dabei ist er eigentlich die zentrale Figur dieses Märchens, das ohne ihn und sein Zutun gar nicht möglich wäre, schließlich schenkt Pate Drosselmeier am Weihnachtsabend seiner Nichte Clara jenen Nussknacker, in den sich das Mädchen sofort verliebt, der vor ihren Augen im Kampf gegen den Mäusekönig in Gefahr gerät, von ihr gerettet wird und sich in einen schönen Prinzen verwandelt.
Nicht so bei Edward Clug. In seiner für das Stuttgarter Ballett choreographierten Deutung steht Drosselmeier fast in jeder Sekunde mit auf der Bühne. Ohne ihn geht nichts, insofern bewegt sich Clug ganz in Richtung auf E.T.A. Hoffmann zu. So sorgt Drosselmeier bei Clug für alles, was sich nach dem Ende des Weihnachtsabends ereignet – er überwacht, ja inszeniert gewissermaßen die nächtliche Schlacht in Claras Schlafzimmer, er begleitet sie in das Märchenreich durch den Schneewald und führt sie schließlich sicher in die Arme seines wieder in einen Menschen verwandelten Neffen. Mit seiner grandiosen tänzerischen Präsenz macht Jason Reilly diesen Drosselmeier zu einer Art Spiritus Rector des Ganzen. Dennoch überlässt Clug seiner Clara genügend Raum zur weiblichen Hauptfigur. Elisa Badenes gestaltet sie mädchenhaft und zugleich schon erwachsen souverän. Und Friedemann Vogel kann seine Brillanz in der Doppelrolle Nussknacker/Drosselmeiers Neffe unter Beweis stellen: In einer Szene wechselt er zwischen beiden Rollen in Sekundenschnelle, indem er vorn und hinten unterschiedliche Kostüme trägt und die Schritte des Nussknackers rückwärts ausführt.
Spätestens ab dem nächtlichen Krieg zwischen den Mäusen und den Zinnsoldaten ist das, was sich vor den Augen der Zuschauer ereignet, im wesentlichen ein Traum der kleinen Clara, deren Bett in nahezu jeder Szene präsent ist. Damit freilich begibt sich Clug der Möglichkeit, nach tieferen Sinnmebenen Ausschau zu halten, die das Wesen von Hoffmanns Dichtung ausmachen. Lediglich am Ende deutet sich eine Differenzierung von Realitätsebenen, die bei Hoffmann so zentral ist, an: Drosselmeier kommt noch einmal ein separater Auftritt zu, den er exakt an der Grenze zwischen zwei Welten – der Bühne und dem Zuschauerraum – beendet. Hier deutet sich an, welche philosophischen Möglichkeiten und Tiefen einer Deutung dieses Balletts aus dem Geist eines E.T.A. Hoffmann dann doch vertan wurden.
Friedemann Vogel, Elisa Badenes, Ensemble © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Vor allem hat Clug nicht die Chance genutzt, Drosselmeier als wahrhaft Hoffmannsche Gestalt auf die Bühne zu bringen, denn mit seiner Begabung für mechanische und optische Gerätschaften steckt ein Verwandter von Hoffmanns dämonischem Coppelius. Jason Reilly kommt in diesem 2. Akt über weite Strecken nur die Rolle eines Reisebegleiters zu, der am Ende das junge Paar zusammenführt, das sich hier in einer Walnuss auf die Reise in die Zukunft begibt. Was ein Spiritus Rector des Ganzen, vielleicht ein geheimnisvoller Zauberer hätte sein können, wird letztlich degradiert zum einem Maître de Plaisir, einem Haushofmeister in einem Weihnachtsmärchen.