Es war eine Revolte, die sich gegen alles richtete, was das bürgerliche Leben ausmachte, nicht zuletzt auch die Werte, die diesem Leben zugrunde lagen. Der Zufall sollte regieren, der Alltag sollte das Material liefern – so wollten es jene Künstler, die vor hundert Jahren nach neuen Wegen suchten und sich unter dem Namen Dada zusammenfanden, wobei es charakteristisch für diese Kunstform ist, dass bis heute der Begriff die verschiedensten Erklärungen gefunden hat, ohne dass eine von ihnen besonders schlüssig wäre. Inbegriff dieser Kunstrichtung war die Collage in jederlei Hinsicht: Sei es, dass Silben und :Klänge zu oftmals sinnlos wirkenden Gebilden verknüpft wurden (wovon in unseren Tagen noch ein Helge Schneider profitiert), sei es, dass aus Fetzen des Alltagslebens neue Bilder entstanden – wie derzeit vor der Waiblinger Galerie Stihl. Dort steht seit Neuestem eine große Wand, auf die jeder Papierfetzen aufkleben kann – eine Art kollektiver Collage soll entstehen.
In der Galerie selbst begegnet man dann künstlerischen Resultaten dieser Stilrichtung, wobei im Unterschied zur Wand vor der Galerie die Arbeiten oft mit wenigen Papierfetzen auskommen, den Rest besorgt die Fantasie. Mal meint man, Figuren erkennen zu können, mal wird der Blick auf die Herkunft der wie zufällig ausgerissenen Papierstücke gelenkt, die nun auf einer Bildfläche vereint sind. Vor allem bei dem Dänen Asger Jorn helfen dabei die Titel:
„Unterbrochenes Fest“ lautet eine seiner Collagen, und die Unterbrechung des farbenfrohen Bildgeschehens ist ein großer Riss in der Mitte.
Doch die Collage ist nur ein Teil dieser Ausstellung, sogar nur ein sehr kleiner, letztlich nur die Vorbereitung für den eigentlichen Ausstellungsinhalt. Der ist gewissermaßen dem Gegenteil der Collage gewidmet, der „Décollage“. Hier werden nicht Papierfetzen zusammengesetzt, hier werden bereits fertige Bilder wieder zerfetzt, und zwar nicht selten Bilder, die aus vielen Schichten bestehen wie die großen Plakatwände, die das Straßenbild der Großstädte in den 50er und 60er Jahre prägten. Die oftmals dick übereinander geklebten Schichten aus Reklameplakaten reizten so manchen Passanten (vor allem im Kindesalter) zur Dekonstruktion, sprich: zum Abreißen, und eine neue Kunstrichtung war geboren. Plakatwände wurden „décollagiert“, „Plakatabreißer“ nannten sich bezeichnenderweise die ersten dieser Kunstprovokateure, „Affichisten’“. Was anfänglich als Witz (oder vielleicht auch als öffentliches Ärgernis) betrachtet wurde, hatte allerdings faszinierende kunsthistorische Dimensionen. Die Plakate enthielten Inhalte – und folglich auch das, was von den Affichisten übrig gelassen wurde; es war eine Reaktion gegen das nach dem 2. Weltkrieg auf dem Kunstmarkt herrschende Diktat der abstrakten Kunst, eine Rückkehr zum Gegenstand.
Was freilich wie reine Willkür wirkte, war in Wirklichkeit durchaus kalkuliertes künstlerisches Vorgehen. Die Affichisten begnügten sich nicht damit, die Plakatwände nach ihrem Eingriff zu belassen, wie sie waren, die Plakatabrisse nahmen sie in ihr Atelier, und dort dienten sie als Ausgangsmaterial für neue Collagen: Die Begriffe gingen ineinander über. Ähnlich wie bei den Dadaisten Jahrzehnte zuvor spielten Elemente des Erkennbaren, Reste gegenständlicher Darstellung und vor allem Buchstaben eine wichtige Rolle. Aus dem anarchischen Impetus entstand eine auch auf dem Kunstmarkt alsbald ernst genommene Kunstrichtung.
Vor allem Asger Jorn wurde zur prägenden Gestalt dieser neuen Kunst, und so ist denn die Waiblinger Ausstellung über die Collage und ihr (vermeintliches) Gegenteil, die Décollage, zum großen Teil eine große Asger-Jorn-Retrospektive. Schon in seinen frühen Collagen begnügte sich Jorn nicht mit Papierfetzen und Klebstoff, er ergänzte vielmehr mit dem Pinsel, was seine Fantasie ihm beim Zusammensetzen der Papierschnipsel eingab: Collage und Malerei fügten sich zur Einheit. Es ist faszinierend nachzuvollziehen, wie er die oftmals aus zehn oder mehr Schichten bestehenden ursprünglichen Plakatwände Schicht für Schicht freilegte, neue Schichten einfügte, collagierte und décollagierte, bis man kaum mehr ausmachen kann, was genau hier auf dem Bild passierte.
Und dann ließ er seine Fantasie abermals spielen. Oft in Gesprächen mit Freunden, die zum Teil an den Ausstellungswänden wiedergegeben sind, begab er sich auf Titelsuche:
Auf dem Bild Lampenfieber kann man ein modernes Stehlämpchen erkennen, dessen gelbe Teile an ihren Enden rot zu glühen scheinen – Lampenfieber eben, es könnte aber auch, wie die dazu gehörige Texttafel in der Ausstellung nahelegt, ein vor lauter Aufregung angesichts des bevorstehenden Auftritts in einer Revue ein Papagei sein, der vor „Lampenfieber“ den Schnabel nicht halten kann. Jorns Unschlagbarer Regen sieht aus, als habe ein Hagelsturm eine halbe Stadt in Trümmer zerfetzt.
Solche Arbeiten sind ein Fest für das Auge, ein Anreiz für die Fantasie des Betrachters und eine faszinierende Synthese von zufälligem Tun und genauer künstlerischer Komposition. Dass die Décollage auch noch andere Ausprägungen gefunden hat – bei einem Wolf Vostell in Deutschland oder in den USA bei Robert Rauschenberg -, die sich beileibe nicht nur auf Plakatwände beschränkte, wird in der Ausstellung freilich nicht berücksichtigt. Es ist letztlich eine Asger-Jorn-Retrospektive, als solche aber allemal sehenswert.
„Collage! Décollage!!“, Galerie Stihl, Waiblingen, bis 28.8.2016