Zeitlose Gültigkeit und tagespolitische Aktualität sind in der Kunst in der Regel selten vereinbar, meist sogar Gegensätze. Dem Bildhauer Wilhelm Lehmbruck allerdings gelang dieser Spagat, und das, obwohl sein Formenrepertoire eindeutig an klassisch-antiken Vorbildern geschult ist und ausschließlich an der menschlichen Figur durchdekliniert wurde. Die Staatsgalerie Stuttgart, die nach dem Erwerb dreier Lehmbruck-Plastiken und zahlreicher Graphiken über den zweitgrößten musealen Bestand an seinen Werken verfügt, zeigt in einer Ausstellung auf, wie diese Synthese gelang, und führt zugleich in einer mustergültig klaren Präsentation in seine Arbeitsweise und sein künstlerisches Denken ein, die Lehmbrucks Modernität unterstreicht.
Der Gestürzte, 1915
Es ist ein Leidender, den der damals Vierunddreißigjährige schuf. Der Gestürzte scheint sich vom Boden erheben zu wollen, doch ist fraglich, ob die Kraft noch ausreicht. Es ist eine erschütternde moderne Version eines Kämpfers, der in früheren Epochen mit der Waffe in der Hand eher heldenhaft dargestellt wurde. Bei diesem Kämpfer ist das Schwert abgebrochen. Es ist Lehmbrucks Kommentar zum Leid des 1. Weltkriegs, der Vernichtung so vieler Menschen. Dazu tragen die dünnen Gliedmaßen bei, die den Körper wie ausgemergelt wirken lassen. Es ist aber nicht einfach eine Plastik zum Thema Krieg, sondern eine symbolische Darstellung des gebrochenen Menschen schlechthin – und dieser Mensch lag Lehmbruck in seinem ganzen Schaffen am Herzen. Er stellte ihn in allen traditionell bekannten Posen und Formen dar – als Stehenden, als Sitzenden, in ganzer Gestalt, als Büste, als Torso. Da liegt der Vergleich mit Arbeiten aus der Antike, der Renaissance, aber auch von französischen Kollegen wie Rodin und Maillol nicht weit, und doch sind die Lehmbruckschen Menschen ganz eigene Wesen. Immer wieder verlängerte er Gliedmaßen. Bei dem Sitzenden Mädchen von 1913 ist das besonders auffällig. Überlang ziehen sich die schlanken Beine hin. Dadurch nimmt er seinen Plastiken jeden Hauch von Realismus, er überhöht die Figuren, macht jede einzelne zur symbolischen Gestaltung des Wesens Mensch, selbst wenn er ganz bestimmte Menschen aus seinem Bekanntenkreis zum Vorbild hatte. Bei Lehmbruck ist stets der Mensch gestaltet. Das kann Die Sinnende sein, oder der Emporsteigende Jüngling. Es scheint, als habe Lehmbruck mit seinen Skulpturen in der Kunst das zu retten versucht, was die Zeit, die beginnende Moderne, in Gefahr brachte, und nicht erst durch den Weltkrieg. Die Seele des Menschen drohte in seiner Sicht im Materialismus der Welt unterzugehen.
Die große Sinnende, 1913
Ziel der Künstler sei es, so Lehmbruck, der Menschheit eine Wahrheit geben zu können, die den Menschen Jahrhunderte bleibe. Daher die Zeitlosigkeit seiner Bemühungen. In den Plastiken deutet sich das an in einer Rücknahme aller individuellen Züge. Seine Figuren wirken nach innen gekehrt – insofern ist Die Sinnende schon vom Titel her die vielleicht charakteristischste Skulptur in seinem Schaffen.
Zugleich aber habe Kunst auch „zeitgemäß“ zu sein. Ein „Wiederaufgreifen alter Stile“ lehnte er ab. Und so erschuf Lehmbruck aus dem Geist der traditionellen Plastik heraus die seiner Zeit gemäße Umformung. Dabei versuchte er, in jeder einzelnen Skulptur dem Wesen perfekt nahezukommen, und das hieß: Nicht nur die ganze Figur sollte dieses Wesen ausdrücken, sondern jedes einzelne Detail. Selbst in den einzelnen Gliedmaßen sollte das Wesen noch erkennbar sein. Daher begann er, die Körper immer stärker zu reduzieren – nicht durch Abstrahierung, sondern indem er nur noch Teile von ihnen übrigließ: Die Büste zum Beispiel, denn vor allem in der Kopfhaltung drückt sich bei seinen Arbeiten die innere Befindlichkeit seiner Figuren aus. Aber auch der Torso, den er etwa von der Sinnenden anfertigte, gibt die Körperhaltung wieder, die der ganzen Figur eignet. In der Ausstellung sind die entsprechenden Arbeiten so platziert, dass man ganze Figur und Teil genau miteinander vergleichen kann.
Damit beschritt Lehmbruck völlig neue Wege. Nicht die fertige Skulptur war für ihn das Ziel seines Schaffens, sondern das Gegenteil, die Auflösung in einzelne Teile, ohne dass der Gesamteindruck verloren ginge. Rund hundert Werke schuf Lehmbruck in den zehn Jahren seines Schaffens – er nahm sich mit knapp vierzig das Leben –, und doch befinden sich darunter letztlich nur ein Dutzend unterschiedlicher Plastiken, der Rest ist Verarbeitung, Reduzierung, Konzentration auf das Wesentliche, eben die Variation, die zur Vollendung führte, wie der Ausstellungstitel nahelegt.
Torso Mädchen, sich umwendend, Torso der Schreitenden, 1913/14
Und noch etwas weist Lehmbruck als Künstler der Moderne aus. Er wählte nicht, wie in der Plastik üblich, den für ihn idealen Stoff für eine Figur aus – Marmor oder Bronze –, vielmehr experimentierte er bei denselben Gussformen mit verschiedenen Materialien – in der Ausstellung kann man dabei sehen, wie unterschiedlich Bronze, Terrakotta, Gips- oder Zementguss im Ausdruck werden. Bronze, bei der jedes Detail bis hin zu den Augen deutlich erkennbar ist, wirkt „realistischer“ als Steinguss oder Terrakotta. Arbeiten in diesen Materialien wirken archaischer, allgemeiner, noch entindividualisierter, als die Arbeiten ja ohnehin sind.
Damit rückt er wie kaum ein anderer Bildhauer die Eigenästhetik des bildhauerischen Materials ins Zentrum, und genau diesen Aspekt – den Bildhauer als Experimentator mit dem Material – macht diese Ausstellung deutlich. Sie zeigt damit vielleicht den modernsten Teil dieses vielschichtigen Künstlers.
„Wilhelm Lehmbruck. Variation und Vollendung“, Staatsgalerie Stuttgart bis 24.2.2019. Katalog 218 Seiten, 24,90 Euro