Sie diente dem Ziel, die Realität möglichst exakt abzubilden, die Fotografie sollte es exakter und auch „neutraler“ ermöglichen, als dies dem Maler vergönnt war, der etwa in der Porträtmalerei dem Modell zwar möglichst nahe kommen wollte, indem er es „naturgetreu“ wiedergab, der sich aber dennoch bereits durch den Pinselstrich von der Realität entfernte. Kunstcharakter wurde der Fotografie denn auch zunächst einmal abgesprochen. Der Künstler erschaffe die Wirklichkeit, so meinte noch 1963 der Kunsttheoretiker Karl Pawek, der Fotograf sehe sie. Doch da hatte diese Erfindung längst Einzug in die Kunstwelt gehalten und wurde 1977 auf der documenta mit einer eigenen Abteilung geadelt. Das Schauwerk Sindelfingen ermöglicht nun einen Einblick in das Wesen moderner Fotografie während der vergangenen fünfzig Jahre.
Eine Ladenfront in Köln, die Architektur führt uns unzweideutig in die Nachkriegszeit. Was Karl Hugo Schmölz in den fünfziger Jahren fotografisch festhielt, lässt sich als Dokumentation des deutschen Wirtschaftswunders lesen: Eingangshallen mit klarer Ästhetik, großzügige Treppenfluchten. Und doch sind diese Fotos mehr als reine Dokumentation, und damit weisen sie über das hinaus, was Pawek der Fotografie bescheinigt: die bloße Wiedergabe der äußeren Welt. Zum einen fotografierte Schmölz seine Stadtansichten menschenleer. Das ist ein Widerspruch, und so wirken seine Fotos zugleich realistisch und gespenstisch. Zudem wählte er seinen Kamerastandpunkt sehr genau. Da verschwinden plötzlich Treppen hinter einer Biegung geheimnisvoll wie die Carceri-Radierungen eines Piranesi. Schmölz‘ Fotos geben Realität wieder und zeichnen zugleich eine ganz eigene Welt.
Das gilt für viele Fotos der folgenden Jahrzehnte. Natürlich gab es auch Dokumentarfotografen. Sie zeigten in Illustrierten durchaus das lebendige Leben in den Großstadtstraßen. Fotografen mit künstlerischem Anspruch dagegen scheinen Menschen eher gemieden zu haben. Carsten Meier zeigt leere Parkplätze – Symbole öder Leblosigkeit, Orte, die jeden Sinns entleert sind, Pavillons, unter deren Dach kein Mensch sich aufhält. Von Candida Höfer sind in der Ausstellung Innenräume zu sehen, die nicht so aseptisch sauber sind wie ihre berühmten Porträts von Bibliothekssälen, sondern Spuren von Leben zeigen, doch das Leben selbst ist aus diesen Räumen längst gewichen.
Und Götz Diergarten porträtiert einsam in der Landschaft stehende Häuschen, Wartehäuschen, in denen Warten sinnlos geworden zu sein scheint. Auch wenn alle diese Bauten und Räume real existieren, verlieren sie auf diesen Bildern ihren Realitätsgehalt. Es sind keine Dokumentationen bestehender Stadtelemente, sondern reine Bilder. Diergarten bezeichnet seine Arbeiten denn auch nicht als Fotografien, sondern als Fotobilder und verweist sie in den Bereich reiner Bildkunst.
Doch nicht nur die Menschenleere macht aus solchen Fotos Symbole. Schmölz wählte seinen Kamerastandpunkt genau und leuchtete seine Räume penibel aus. So wirken sie nicht mehr real, sondern geradezu artifiziell, als wären sie nicht von einem Fotografen aufgefunden worden, sondern von ihm inszeniert. Wenn Günther Förg von einem Hochhaus in Tel Aviv nur die oberen Stockwerke zeigt und auch die nur partiell, dann wirken sie wie Fantasiegebilde, die sich in die Lüfte erheben wollen. Architekturfotografie ist das nicht. So werden reale Gebäude zu rein ästhetischen Gebilden in einer Fläche. Roland Fischer rückt den Fassaden moderner Architektur so dicht auf den Mauerleib, dass die Ornamente der Fassadengestaltung wirken wie die Bilder eines konstruktivistisch vorgehenden Malers. Realität wird so verwandelt in reine Konstruktion.
Ganz anders dekonstruiert Elger Esser die Realität, um sie dann für das Foto neu zu konstruieren. Er nimmt alte Farbpostkarten und vergrößert sie zu Wandbildern oder fotografiert mit Überbelichtung und Filtern, sodass seine Fotos nicht mehr wirken wie Aufnahmen aus der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern wie alte Postkarten oder gar wie impressionistische Gemälde. Das Foto wird zur Malerei.
Oder es wird zum Filmstandbild. Wim Wenders hat sich ganz dokumentarisch mit den Aufräumarbeiten der beiden am 11.September 2001 zerstörten Twin Towers in New York gewidmet, doch seine Aufnahmen wirken wie die großformatigen Standbilder eines Spielfilms. Auch als Fotograf erweist er sich als genuiner Filmemacher.
Hiroyuki Masuyama geht noch einen Schritt weiter. Er scheint ganz realitätsgetreu eine blühende Wiese eingefangen zu haben. Doch bei genauerem Hinsehen entdeckt man Blüten, die nie zur selben Zeit blühen, und es finden sich kleine Brüche in der Perspektive. Ein „Foto“ von Masuyama ist ein extrem künstliches Konstrukt aus Hunderten von Aufnahmen, die am Computer zu einer neuen Realität umgewandelt werden.
Von da ist es kein weiter Schritt zu Fotoarbeiten, die keinerlei reale Welt wiederzugeben scheinen, wie die Farbschlieren von Thomas Ruff. Er hat am Computer Manga-Comicbilder übereinander gelagert, bis sie jede Ähnlichkeit mit Gegenständlichem verloren haben. Aber immer noch war der Ausgangspunkt ein reales Bild – wie auch bei Klaus Heider, der scheinbar nur grelles Licht auf lichtempfindliches Papier hat einwirken lassen, doch in Wirklichkeit sind seine Arbeiten Fotografien des Pantheon in Rom, wenn zur Mittagszeit das Licht ungehindert durch die Öffnung im Dach in das Gebäude strömt.
Die künstlerische Fotografie ist ein Bildschaffen mit Elementen aus der realen Welt, nicht eine Wiedergabe derselben. Das macht vielleicht Thomas Demand am krassesten deutlich: Er begibt sich mit der Kamera gar nicht mehr vor Ort. Er lässt sich von Raumfotografien in Illustrierten inspirieren, baut diese dann im Modell aus Pappe nach und fotografiert die Modelle. Das sind hochphilosophische Arbeiten zur Frage: Was ist ein Raum, was ist das Bild von einem Raum, und was ist eine Raumfotografie.
Die Ausstellung erhebt nicht den Anspruch auf Repräsentativität, sie ist Teil einer großen Privatsammlung, doch das Spektrum der Fotografenmentalitäten und die Namensliste sind beeindruckend. Und so ist die Ausstellung mehr als nur die Versammlung großartiger Fotografien, sie ist eine Lektion in Sachen Wahrnehmung. Ein Foto ist ein Bild von einer Welt. Diese Welt kann die uns vertraute sein, doch das Bild ist nie identisch mit ihr. Der künstlerische Fotograf sieht zwar in der Tat diese Welt, wie Pawek 1963 noch behauptete, er nimmt sie durch das Objektiv wahr und damit als besonderenAusschnitt, eben bereits als Bild, nicht als Welt, die sie ist, und mit seiner Arbeit verwandelt er sie. Die Welt wird unter seiner Hand zum Material für ein Bild – und damit geht der künstlerische Fotograf nicht viel anders vor als ein Maler, nur ist er im Unterschied zum Maler immer noch an das vorhandene Sichtbare gebunden.
„Lichtempfindlich 2. Fotografie aus der Sammlung Schaufler“, Schauwerk Sindelfingen bis 25.4.2021. Katalog 320 Seiten, 34,90 Euro