Dem Maler Zeuxis sagte man im antiken Athen nach, er habe Trauben so porträtieren können, dass Vögel nach ihnen gepickt hätten. Das war das Ideal der Malerei, als es noch ihr alleiniges Vermögen war, Realität wiederzugeben. Das hat sich mit der Erfindung der Fotografie geändert. Wenn heute ein Maler dennoch die Realität derart perfekt mit Pinsel und Farbe nachahmt wie einst Zeuxis, hat er andere Ziele, wie etwa der Berliner René Wirths, von dem das Museum im Kleihues-Bau in Kornwestheim jetzt Beispiele seines Könnens zeigt.
„Zwiebel“ steht als Titel neben diesem Bild, und genau das ist auch zu sehen: eine gewöhnliche Haushaltszwiebel mit den verdorrten Wurzeln, der dürren braunen vertrockneten Außenschale. René Wirths ist in gewisser Weise Tautologe: Er verdoppelt die Wirklichkeit. Ob es nun ein Ghettoblaster mit Cassettenrecorder ist oder ein altes Vierspurtonbandgerät – jedes Objekt ist sofort erkennbar. Wirths ist ein großer Porträtist der Dinge des Alltags. Und seine Maltechnik ist derart stupend, dass es ihm gelingt, jedes noch so kleine Detail wirklichkeitsgetreu auf die Leinwand zu bringen.
Das Gitter der beiden runden Lautsprecher aus Lochblech scheint sich echt vorzuwölben, die Schrauben am Tonbandgerät wirken geradezu plastisch, man möchte zum Schraubenzieher greifen, um sie noch ein wenig nachzuziehen. Beim herbstlichen Blumenstrauß kann man genau nachvollziehen, wo sich in der durchsichtigen Vase die einzelnen Blumenstengel nach oben bis zur welkenden Blüte erstrecken. Ausstellungen mit seinen Bildern lassen den Betrachter vor Bewunderung ob dieser Detailmalerei ehrfürchtig erstaunen, die Bilder sind Wunderwerke rein technischer Malkultur.
Und da sind wir beim zweiten Aspekt seiner Kunst. Wirths malt zwar perfekt fotorealistisch, aber er malt eben, und so geht man dicht an die Bilder heran und erkennt, wie sie gemalt sind. Was auf den ersten Blick mit einem Foto verwechselt werden kann, entpuppt sich eben doch als Produkt von Pinsel und Farbe. Wirths will den Malprozess nicht verleugnen, im Gegenteil. Seine Bilder machen deutlich, was René Magritte einmal mit dem Bild einer Pfeife angestellt hat; er gab dem Bild den Titel: „Dies ist keine Pfeife“ und hatte damit ähnlich tautologisch recht wie Wirths, dessen Zwiebel eben keine Zwiebel ist, sondern das Bild einer Zwiebel. Und so beginnt man vor diesen Bildern Fragen zu stellen über das Wesen von Malerei, die Funktion von Motiven, der Relation zwischen Alltag und Bild.
Aber diese Gemälde sind mehr als das. Wirths malt stets nur ein Objekt pro Bild; damit lenkt er den Blick auf die Details, die wir im Alltag, wo wir diesen Gegenständen auch begegnen, nicht wahrnehmen, weil wir wissen, wie sie aussehen, und ihnen keine Aufmerksamkeit mehr schenken. Zudem sind sie ja Gebrauchsartikel. Bei Wirths werden sie zu ästhetischen Objekten. Wirths verleiht dem Alltag auf diese Weise eine ungewöhnliche Würde, macht ihn zu etwas Besonderem, denn nur Besonderes gilt als porträtwürdig. Das ist die philosophische Seite seiner Malerei.
Und dann fängt man vor diesen Bildern an, unsicher zu werden. Schon die Tatsache, dass Wirths mit ihnen die Bildfläche nahezu vollständig ausfüllt, verleiht ihnen etwas Unwirkliches, die Wurzeln der Zwiebel wirken wie bedrohliche Fangarme. Vor allem aber fragt man sich, ob denn hier tatsächlich alles stimmt.
Was sind das für weiße Farbspritzer auf dem Ghettoblaster? Stand das Gerät einmal während einer Renovierung im Wohnzimmer auf dem Boden und hat Farbe abbekommen? Doch dann dürfte sie nicht so präzise in Spritzern verteilt sein.
Woher kommt das Licht, das sich auf dem Glas der Glühbirne spiegelt? Eine richtige Lichtquelle ist nicht auszumachen; hier scheint Licht von allen Seiten auf die Oberfläche der Birne zu fallen, wo doch eigentlich bei einer Glühbirne Licht von innen nach außen strahlen müsste. Wieder mag man an das eine oder andere Bild von René Magritte denken, bei denen oft gar nichts zu stimmen scheint. Dass sich eine Person in einem Esslöffel kopfüber spiegelt, ist eine Binsenweisheit. In diesem Fall erkennt man sogar, dass es der Künstler selbst ist, wie er gerade eine Leinwand bemalt. Wer aber hat in diesem Fall den Löffel gehalten? Der Künstler kann es nicht gewesen sein. So transzendiert Wirths die Realität mit seinen so realistisch wirkenden Bildern, Realismus kippt um in Surrealismus, Wirklichkeit in Unwirklichkeit. Wie bei seinem Keilrahmen. Die Arbeit wirkt, als sei ein leerer Keilrahmen an die Wand gehängt worden, doch in Wirklichkeit ist alles reine Malerei. Perfekter kann man das Auge nicht mehr täuschen. Trompe l’oeil-Malerei reinster Couleur, die in Surrealismus mündet.
„René Wirths – Time is on my side“, Museum im Kleihues-Bau, Kornwestheim, bis 23.1.2022