Braucht Hoffmann wirklich drei Frauen, von denen er in Jacques Offenbachs Oper erzählt? Oder sind es in Wirklichkeit nur drei Facetten des Weiblichen, das er in nuce in einer einzigen Frau verkörpert glaubt, der Opernsängerin Stella, die angeblich, während er mit seinen Saufkumpanen in Lutters Weinkeller den Alkoholspiegel in seinem Blut langsam aber stetig ansteigen lässt, im Opernhaus nebenan Mozarts Donna Anna singt – angeblich, denn in Offenbachs Oper bzw. in Hoffmanns Universum weiß man nie, woran man eigentlich ist. Zumal, dies einer der grandiosen, subtilen Einfälle Offenbachs, diese Sängerin in seiner Oper als einzige Figur nicht singt – sie ist eine Sprechrolle.
Drei Frauen also für eine ideale – da liegt es nahe, für seine drei Erzählungen von diesen Frauen einen Einheitsraum zu schaffen. Anna Viebrock gelingt dies mit gewohnter Tiefsinnigkeit. Die Inspiration hierfür lieferte ein Musentempel in Madrid, in dem Kunststudenten, Theaterbegeisterte, Musikliebhaber, Cafébesucher und Billardspieler gleichermaßen ihr Betätigungsfeld finden – eine Idee von Gerard Mortier, der sich diese Inszenierung noch kurz von seinem Tod für Madrid und Stuttgart ausgedacht hat. Anna Viebrock hat aus dieser Vorlage symbolisch aufgeladene Räume gechaffen, in denen die Realität ausgehebelt wird: Die Uhr an der Wand hat keine Zeiger, immer wieder blitzen zwei grelle Augen auf, als seien sie die Instrumente eines Big Brother oder die phantastischen künstlichen Augen des Glashändlers Coppelius, die Spalanzani in seine Puppen einbaut, Billardtische entpuppen sich als Grabkammern, in denen Betrunkene ihre alkoholselige Ruhe finden.
Christoph Marthaler hat dafür eine Bühnensprache gefunden, die sich an den Surrealisten um André Breton und Antonin Artaud orientiert. Wie in einem Alptraum messen bei ihm immer wieder Figuren die Ränder des Bühnensettings aus, eine Laienmusikerin dirigiert den Chor der sauflustigen Studenten in Lutters Weinstube stets falsch – in Zeitlupe, wenn Tempo intoniert wird, hektisch, wenn Legato gesungen wird. Alle Gesetze der Alltagswelt sind hier aus den Angeln gehoben.
Das passt zur Welt eines E.T.A.Hoffmann, dessen Erzählungen der Oper ja zugrunde liegen, aber es lähmt auch all das, was an Esprit und Witz in Offenbachs Musik liegt, der allerdings auch Sylvain Cambreling am Pult des Staatsorchesters einiges schuldig bleibt. Fast eine Stunde zieht sich so hin, ehe im Kabinett des Spalanzani, eines Physikers und Tüftlers, die erste „Frau“ auf die Bühne kommt, in die Hoffmann sich unsterblich verliebt – die Puppe Olympia. Hier freilich entfacht Marthaler ein Feuerwerk an Ideen. Graham Valentine singt die geheimnisvolle Alternative zu Dr. Frankenstein mit verrauchter Chansonnierstimme – so rau, wie die Rädermaschine in Spalanzanis Automatenpuppe krächzt.
Ana Durlovski gelingt die Gratwanderung (neben den fulminanten Koloraturen und zugleich lyrischen Passagen dieser höllisch schweren Partie), ein mechanisches Wesen zu gestalten, das dicht an der Grenze zu einem lebendigen Mädchen angesiedelt ist – nicht eine reine Marionette, bei der man sich fragen müsste, woher Hoffmanns Begeisterung rührt.
Doch schon für die zweite Frau in diesem Reigen, die Sängerin Antonia, findet Marthaler kaum Bilder, um die Kunstbesessenheit dieser Frau (von Mandy Fredrich glaubhaft sängerisch charakterisiert) zum Ausdruck zu bringen, die aus Gesundheitsgründen nicht singen dürfte und doch dem Kunstdrang in sich nicht widerstehen kann.
Und für die von Simone Schneider stimmlich herrlich verkörperten Kurtisane Giulietta sind dem Regisseur nicht viel mehr als die Standardgesten eingefallen, die man sich bei einer Dame der käuflichen Liebe klischeehaft vorstellt.
Dafür ist Marthaler das gelungen, was dem Titel von Offenbachs Meisterwerk eigentlich zuwiderläuft: Er lässt diese Erzählungen vorspielen, Hoffmann ist mehr Zuschauer denn Mitakteur, und das entspricht genau dem Charakter dieser Oper, denn bei Offenbach sind „Hoffmanns Erzählungen“ genau genommen lediglich drei Szenen, in denen Hoffmann seinen Angebeteten weitgehend nur zusieht.
Foto: A.T. Schaefer
Am Ende ist Hoffmann in dieser Inszenierung dort, wo er so oft aufzufunden war: im Vollsuff, aber es besteht die Hoffnung, dass die ihn die ganze Oper über begleitende Muse dennoch sein Ohr findet und er fortan die „Asche seines Lebens“ in Kunst verwandelt. Dieser Hoffmann ist kein Mensch wie du und ich, er ist durch und durch Künstler. Zu dieser Erkenntnis braucht er eben seine drei Erzählungen, das macht Marthaler in seiner Fassung deutlich, denn Offenbach hinterließ sein Werk ja unvollendet.
So bleiben in Erinnerung drei fulminante Sängerinnen, eine Welt des Alptraums und ein Bühnenbild, das das Wesen dieser „Erzählungen“ auf den Punkt bringt.