Wenn ein literarisches Werk auf die Ballettbühne gelangt, dann geht das in der Regel einher mit einer Reduzierung. Die Zahl der Figuren und der Handlungseinheiten wird verringert, denn die Übermittlung von dramatischen Inhalten benötigt auf der Tanzbühne meist mehr Zeit als auf der Sprechbühne oder im Roman. Als Marco Goecke sich entschloss, den Roman Der Liebhaber von Marguerite Duras in ein Ballett zu verwandeln, hätte er diese Komprimierungsarbeit gar nicht leisten müssen, denn der Roman kommt weitgehend mit fünf Figuren aus. Er aber fügte diesen Hauptfiguren weitere hinzu.
Lilit Hakobyan (French Woman) © Ralf Mohr
So findet sich in seinem Personal auch eine französische Frau, Helen, eine Mitschülerin der Protagonistin im Mädchenpensionat, eine Braut. Und weil die Mutter der Protagonistin psychisch labil ist und am Rand des Wahnsinns lebt, gibt es auch eine „Lunatic“ genannte Figur. Damit gelingt es Goecke, den engen Kreis um das Mädchen und ihren Liebhaber sowie ihre Familie in einen größeren Rahmen zu stellen. Das versucht er auch gleich zu Beginn des Balletts, wenn er den Zuschauer in die Welt in Saigon, am Mekong einführt, an dem auf einer Fähre die eigentliche Liebeshandlung beginnt.
Herren des Staatsballetts Hannover © Ralf Mohr
So erleben wir zunächst die „River Boys“ vor einem vage als Flusslandschaft angedeuteten Bühnenprospekt. Sie vollführen jene Bewegungen, die seit langem Goeckes „Markenzeichen“ sind: nervös aufgeladene Zuckungen vor allem der Arme, ein hektisches über den Kopf Streifen, ein starres nach unten Strecken der Arme. Diese River Boys stehen für die vietnamesische Bevölkerung, und da bekommen seine abrupten Bewegungen, die in früheren Arbeiten manchmal den Eindruck des Selbstzwecks, ja des Manierismus erweckten, plötzlich inhaltlichen Sinn, drücken die in ihrer täglichen Arbeitsroutine gefangenen Menschen am Fluss aus.
Doch wenn sich das Mädchen und ihr Liebhaber dann erstmals begegnen, wandelt sich Goeckes choreographischer Stil radikal. Es ist vielleicht Liebe auf den ersten Blick, auf jeden Fall aber eine elektrisch aufgeladene Faszination, die zwischen dem 15jährigen französischen Mädchen und dem zwölf Jahre älteren chinesischen Geschäftsmann innerhalb eines Augenblicks auf einer Fähre in Saigon entsteht. Bei Duras schließt sich das Mädchen dem älteren Mann sogleich an. Nicht so bei Goecke. Bei ihm ist es ein „Augenblick“ im Wortsinn, der alles auslöst und sogleich zu einer Seelenverwandtschaft führt.
Sandra Bourdais, Maurus Gauthier © Ralf Mohr
Faszinierend lässt Goecke in dieser frühen Szene die beiden Figuren parallel zueinander schreiten, mal neben- mal hintereinander, mal gehen sie aufeinander zu, mal bewegen sie sich voneinander weg, immer aber im Gleichklang der Körper und vor allem mit einer geradezu spannungsgeladenen Langsamkeit. Dabei arbeitet Goecke mit seinen Tänzern subtil die Unterschiede heraus. Sandra Bourdais ist eher verhalten, vorsichtig beobachtend, der Liebhaber von Maurus Gauthier ist zwar auch vorsichtig, aber fordernder, er rutscht auch mal rückwärts auf dem Boden auf sie zu. Das ist von beiden eine grandiose Charakterstudie mit geringsten gestischen Mitteln.
So wie der Roman nicht eine chronologische Handlung erzählt, sondern einzelne Episoden und Erlebnisse beschreibt, die sich die Erzählerin in der Ich-Perspektive Jahrzehnte nach dieser Liebesbeziehung in Frankreich in Erinnerung ruft, so reißt auch Goecke immer nur momenthaft einzelne Aspekte dieser Existenz zwischen rauschhafter sexueller Liebe und beklemmender Familienatmosphäre an, in der die Mutter sich ganz auf den älteren Sohn konzentriert und den jüngeren sowie ihre Stieftochter vernachlässigt. Faszinierend macht Sandra Bourdais als Mädchen die Unerfahrenheit der Jugend, aber auch die rasch aufkeimende Erkenntnis, dass dieser Mann ihr verfallen ist, deutlich. Langsam wird ihre Beziehung auch sexuell, aber sexuelle Neugier ist mit leisen Gesten von Anfang an deutlich vorhanden.
Mit einer ähnlichen Mischung aus Mimik, Gestik und Tanz charakterisiert Goecke die beiden Brüder und die Mutter, die von Ana Paula Camargo in einer Mischung aus Unsicherheit und herrischer Pose charakterisiert wird. Der ältere Sohn (Rosario Guerra), Nichtsnutz und drogenabhängig, eilt in rasenden Läufen wie ein gefährlicher Schatten über die Bühne und stößt dabei gewaltige grauweiße Zigarettenrauchwolken aus, die eine unglaubliche Körperlichkeit besitzen.
Eine Hauptrolle in Goeckes hochmusikalischer Choreographie spielt die Musik, die ganz der Symbolik des Stroms gewidmet ist. „La Mer“ von Claude Debussy und das ebenso Auf- und Abschwellende des zweiten Satzes von Maurice Ravels G-Dur-Klavierkonzert – der Fluss als Symbol der Unsicherheit des menschlichen Lebens. Und Goeckes Tanzbewegungen gehen ganz auf das Wogen der Musik ein.
Doch während ihm diese wesentlichen Passagen des Romans grandios gelingen, bei denen er eine sehr viel abwechslungsreichere Tanzsprache entwickelt hat, als man es von seinen früheren Balletten her kennt, sind die von ihm ergänzten Figuren blass, da sie in der Gesamtanlage des Stücks wenig Raum zur Entfaltung haben. Entsprechend schwer tut sich der Zuschauer mit deren Identifizierung. Die zentrale Geschichte um eine Amour fou, die vor allem für das Mädchen zur Lebensnotwendigkeit wird, weil sie ihr Gelegenheit zur Flucht aus der Enge der Familie gibt, wäre völlig ausreichend gewesen. Hätte sich Goecke darauf konzentriert, wie es die von ihm verehrte Marguerite Duras getan hat, dann wäre ein Meisterwerk entstanden.
Der Stream ist bis 27.3. abrufbar
https://www.staatstheater-hannover.de/de_DE/start-staatsoper