Wiedergelesen: Dreimals „Mrs. Dalloway“: Michael Cunningham: Die Stunden

1925 erschien in London ein Roman, der dieser Gattung ganz neue Dimensionen erschloss. Äußerlich betrachtet geschieht nicht viel: Es geht um die Alltäglichkeiten einer kleinen Personengruppe in London nach dem 1. Weltkrieg. Dem Leser werden diese Äußerlichkeiten aber fast ausschließlich durch die Wahrnehmungen und Gedanken der einzelnen Figuren vermittelt: Die Außenwelt spiegelt sich in der Innenwelt. The Hours wollte Virginia Woolf diesen ihren vierten Roman nennen, Die Stunden, entschied sich dann aber für Mrs. Dalloway. 1998 griff der amerikanische Romancier Michael Cunningham für einen neuen Roman Woolfs ursprünglich geplanten Titel auf: The Hours, Die Stunden.

Die Luft ist erfrischend, das Leben in den Londoner Straßen vibriert, Mrs. Dalloways macht sich zu Beginn von Virginia Woolfs Roman in Hochstimmung auf den Weg, um Blumen für die Gesellschaft zu kaufen, die sie an diesem Abend im Juni 1923 geben will. Michael Cunninghams Roman dagegen beginnt in nebligem Wetter, die Luft ist regengeschwängert, und eine seiner Protagonistinnen nimmt sich in einem Fluss das Leben. Es ist Virginia Woolf; sie beging 1941 Selbstmord.

Krasser hätte sich der Anfang seines Romans von dem Virginia Woolfs nicht unterscheiden können, am Ende freilich ähneln sich beide Werke durchaus: In beiden hat sich eine Figur das Leben genommen, die abendliche Gesellschaft – 1993 in New York, wo ein Teil von Cunninghams Roman spielt, natürlich eine Party – ist überschattet von dem tragischen Vorfall.

Der unterschiedliche Beginn ist freilich sinnvoll, denn Cunningham macht dadurch deutlich, dass er keineswegs eine moderne Version des klassischen Vorbilds schreiben wollte, obwohl sein Buch eine solche durchaus auch ist. Denn bereits im 1. Kapitel – der erwähnte Selbstmord Virginia Woolfs findet sich im „Prolog“ zu seinem Roman – sind die Parallelen unübersehbar. Auch hier ein Junimorgen, auch hier eine Frau in den besten Jahren, Clarissa Vaughan, auf dem Weg zum Blumenladen, auch hier Erinnerungen an eine Liebe, die sie Jahrzehnte zuvor erlebt hatte. Und wie sich Mrs. Dalloway fragt, was aus ihr wohl geworden wäre, hätte sie damals den jungen Peter Walsh geheiratet und nicht ihren Mann Richard Dalloway, so fragt sich Clarissa Vaughan, was gewesen wäre, hätte sie seinerzeit Richard Brown geheiratet, der freilich, und hier weicht Cunninghams Roman von dem Woolfs deutlich ab, schwul ist, und wäre sie nicht längst eine lesbische Lebensbeziehung mit einer anderen Frau eingegangen. Cunningham fügt in seinen Roman das Thema seiner Zeit ein – freie Liebe, gleichgeschlechtliche Liebe, Aids, denn Richard, inzwischen ein berühmter Schriftsteller, ist von der damals tödlichen Krankheit gezeichnet und wird sich aus dem Fenster stürzen wie bei Virginia Woolf der durch den 1. Weltkrieg traumatisierte Septimus Warren Smith.

Cunninghams Buch ist eine Mischung aus subtilen, den veränderten historischen Umständen angepassten „Zitaten“ aus Woolfs Buch und dem Entwurf einer ganz eigenen Romanhandlung. So findet sich das Thema gleichgeschlechtliche Liebe auch bei Virginia Woolf, die ja einige Jahre eine solche Beziehung unterhalten hatte. Virginia Woolf litt zeit ihres Lebens unter Kopfschmerzen und „Stimmen“; Stimmen hört in ihrem Roman Mrs. Dalloway auch der traumatisierte Septimus Warren Smith; er meint, im Vogelgezwitscher altgriechische Wortfetzen zu vernehmen, so wie Richard, der aidskranke Freund von Clarissa Vaughan, Stimmen hört, die ihn altgriechisch anmuten. Und Clarissa Vaughan ist nicht nur Cunninghams literarisches Pendant zu Woolfs Clarissa Dalloway, sondern sie wird wegen ihres Vornamens von ihrem literarisch gebildeten Freund auch Mrs. Dalloway genannt. Solche Parallelen reichen bis in Details. Bei Woolf meint Mrs. Dalloway in einem feudalen Auto eine berühmte Persönlichkeit zu erkennen und rätselt: Ist es jemand aus dem Königshaus? Der Premierminister? Clarissa Vaughan sieht ein Filmteam auf den Straßen New Yorks und rätselt ihrerseits: War das Meryl Streep? Oder Vanessa Redgrave? (Ironie der Geschichte: In Stephen Daldrys Verfilmung von Cunninghams Roman von 2002 verkörpert Meryl Streep die Figur der Clarissa Vaughan.)

So zieht sich Woolfs Roman in Details und raffinierten Parallelen durch Cunninghams ganzes Buch, auch in der Geschichte der dritten Heldin, einer „Normalbürgerin“, die an ihrer bürgerlichen Normalexistenz verzweifelt und sich mit dem Roman Mrs. Dalloway unter dem Arm für einige Stunden in ein Hotel zurückzieht, um ihn dort zu lesen.

So umfasst Cunninghams Roman in drei Etappen ein ganzes Jahrhundert: 1923 mit jenen Junitagen, in denen Virginia Woolf mit dem ersten Satz für ihren neuen Roman ringt. Es ist jener inzwischen berühmt gewordene Satz: „Mrs. Dalloway sagte, sie wolle die Blumen selber kaufen.“ Es ist dieser Satz, der seine zweite Heldin, Mrs. Brown, in den 50er Jahren von Anfang an so fasziniert, dass sie diesen Roman unbedingt lesen will, und es ist dieser Satz, mit dem Clarissa Vaughan eingeführt wird, wenn auch leicht variiert: „Die Blumen müssen noch besorgt werden.“

Cunninghams Buch ist eine Fundgrube für die Freunde von Virginias Woolfs Roman, und zugleich eine spannende Lektüre über drei Frauen, die unzufrieden sind mit dem, was sie in ihrem Leben erreicht haben. Man muss das Original Mrs. Dalloway nicht gelesen haben, um Cunninghams Roman zu verstehen; kennt man ihn, so erhöht sich der Witz von Cunninghams Anspielungen. Vielleicht regt die Lektüre sogar den einen oder anderen, der Virginia Woolfs Roman noch nicht kennt, dazu an, ihn zu lesen, denn er ist selbst hundert Jahre nach seinem Erscheinen immer noch ein hochmoderner Roman, dessen raffiniere Technik des psychologisierenden Erzählens von den Neuerscheinungen unserer Tage selten erreicht, auf keinen Fall übertroffen wird.

Michael Cunningham, Die Stunden. 224 Seiten, btb Verlag, 9.99 Euro

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