Wiederentdeckt: Zwischen Realität und Fiktion: Colm Tóibíns Roman über Henry James

Er hatte mit seiner Mozart-Biographie einen Klassiker der Mozartliteratur geschrieben, der in über zwei Dutzend Sprachen übersetzt wurde, und doch behauptete Wolfgang Hildesheimer danach kategorisch, eine perfekte Biographie könne man über einen Menschen, der tatsächlich gelebt habe, nicht schreiben. Und so schrieb er nach dem „biographischen Essay“ über das musikalische Wunderkind eine „Biographie“, in der alle Figuren rund um den Protagonisten gelebt haben, nur der „Titelheld“ nicht: Marbot. Dies kommt einem in den Sinn, wenn man das Buch des Iren Colm Tóibín zur Hand nimmt, in dem er den großen Romancier Henry James porträtiert, nicht in einer Biographie, sondern in einem 2005 erschienenen Roman.

Es geschieht nicht eben viel in diesem Buch. Der bereits, wenn auch eher in einem kleineren Kreis gebildeter Leser, berühmte Autor reist: Nach Irland auf Einladung des dortigen Vizekönigs, nach Venedig, um den Nachlass einer durch Selbstmord gestorbenen Schriftstellerkollegin und Freundin zu ordnen, nach London, wo er den Misserfolg seines Theaterstücks erleben muss, auf das er vor allem finanzielle Hoffnungen gesetzt hat, nach Rye, wo er das von ihm so geliebte Lamb House erwirbt, in dem er bis zu seinem Tod leben wird. Doch mehr als Begegnungen, Gespräche, Korrespondenzen füllen diese Zeit nicht aus, die ohnehin kurz ist. Knapp fünf Jahre hat Tóibín sich aus dem Leben dieses Autos herausgegriffen. Große Erfolge liegen bereits vor und werden von den Verehrern des „Meisters“, so der Titel im Original, der um vieles besser ist als der deutsche, der auf einen Roman von James Joyce anspielt, eifrig diskutiert: Daisy Miller, Die Europäer, Bildnis einer Dame. Der von ihm zur Meisterschaft gebrachte, wenn nicht gar von ihm erfundene psychologische Roman liegt bereits in Perfektion vor. Während der Handlungsjahre entstehen Meisterwerke wie Die Drehung der Schraube, doch die großen Meisterwerke: Die Flügel der Taube, Die Goldene Schale und Die Botschafter liegen noch in der Zukunft.

Und doch ist der Leser mit einem ganzen Menschenleben konfrontiert. Tóibín entführt ihn in den Kopf seines Helden. Wir erleben, wie Erinnerungen sich in den Geist dieses kreativen Menschen drängen: an seine Eltern, seine Schwester, die nach einer psychischen Erkrankung schließlich an Krebs starb, den Bruder William, der als Wissenschaftler in Amerika Triumphe feiert und als „großer“ Bruder ihn immer in den Schatten gestellt hat, und die enge Vertraute, Constance Fenimore Woolson – fast durchweg Personen, die ihm nahestanden, die er jedoch immer wieder auf Armeslänge von sich fernhielt, er, der einzig seiner Kunst leben wollte, keine Störung duldete und wahrscheinlich zu enger Bindung nicht fähig war.

Tóibín verzichtet auf alles Spektakuläre, wozu die Sexualität seines Helden hätte Anlass geben können. Doch der vermutlich homosexuelle Schriftsteller hielt sich auch hier zurück, vielleicht aufgeschreckt durch das Schicksal, das Oscar Wilde durch seine Homosexualität erleben musste. Tóibín beschränkt sich auf Anspielungen und folgt darin ganz dem literarischen Vorgehen von Henry James: Da gibt es einen attraktiven jungen Mann, der ihm in Irland als Kammerdiener zur Seite gestellt wird, sowie den nicht minder attraktiven Bildhauer Hendrik Andersen.

Doch das eigentliche Thema dieses Romans ist die schriftstellerische Kreativität, der Schöpfungsakt eines literarischen Werks. Es gibt fast nichts im Leben dieses Henry James, das nicht literarisch verwendbar sein könnte und zum Teil auch Verwendung findet. Nichts ist davor sicher, auch nicht enge Vertraute. Das Leben ist der Stoff, aus dem Romane sind – und Tóibín lässt den Leser an den vertrackten Windungen und Kombinationen Teil haben, in denen das reale Leben zur Fiktion wird. Im Kopf dieses Schrifttellers ist die Fantasie, die Vorstellungskraft nicht eine Sekunde außer Arbeit. James stellt sich vor, wie sich die armen Kinder von Oscar Wilde fühlen mögen im Exil, in das ihre Mutter sie nach der Inhaftierung ihres Mannes gebracht hat, er stellt sich vor, wie die letzten Minuten seiner Freundin Woolson vor ihrem Sturz aus dem Fenster ausgesehen haben mochten, wieviel vom Erleben seines im Bürgerkrieg schwer verwundeten Bruders im Geruch einer von diesem benutzten Decke festhängt. Realität wird in Fiktion verwandelt, aber auch der umgekehrte Weg ist möglich: James entdeckt in Personen, die er kennenlernt, Züge von Romanfiguren, die er Jahre zuvor auf dem Papier zum Leben erweckt hatte.

Das Leben des Schriftstellers als nicht enden wollende Vorstellung, das seine Erfüllung in jedem neuen Werk findet, sodass die Werke die Person des Autors ausmachen. Meine Werke, das bin ich, denkt James gegen Ende einmal sinngemäß. Dass das reale Leben dabei auf der Strecke bleibt, ist das Schicksal des genialen Autors.

Angemessener lässt sich eine Schriftstellerpersönlichkeit kaum mehr plastisch darstellen. Eine Biographie hätte es nicht vermocht, dem Roman gelingt es.

Colm Tóibín: Porträt des Meisters in mittleren Jahren. Hanser Verlag, München, 432 Seiten, 9.99 Euro

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