Seit der Renaissance ist Italien ein Mekka für Künstler, für die wohlhabenden jungen Engländer war es ab dem 18. Jahrhundert ein Muss auf ihrer Grand Tour über das Festland, im Hollywoodkino bekehrt es geschäftstüchtige und allzu nüchterne amerikanische Herren der besseren Gesellschaft zum Dolce far niente. Auch der englische Schriftsteller E. M. Forster, Jahrgang 1879, war offenbar nicht unempfänglich für die Reize des Landes, wo die Zitronen blühen. Zwei seiner sechs Romane spielen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil im Land der Sonne und der Kultur, so auch der durch James Ivorys Verfilmung einem breiteren Publikum bekannte Roman Zimmer mit Aussicht.
Vielleicht hätten die beiden Engländerinnen doch nicht das Angebot des älteren Herrn Emerson annehmen sollen. Andererseits hatte man ihnen doch für ihren Aufenthalt in Florenz in der Pension Zimmer mit Blick auf den Arno versprochen, mit Aussicht also, und nun blicken ihre Fenster nur auf den Hinterhof. Zimmer mit Aussicht haben dagegen Mr. Emerson und Sohn George, und der alte Herr erweist sich als Gentleman, obwohl er keinesfalls ein solcher ist, d.h. nicht zur entsprechenden Gesellschaftsschicht gehört, und bietet einen Zimmertausch an. Miss Bartlett, die die junge Lucy Honeychurch als Anstandsdame begleitet, ist dagegen: Man dürfe solchen Leuten nicht verpflichtet sein, aber Lucy setzt sich durch, auch wenn sie nur das kleinere der beiden Zimmer bekommt, denn im größeren hatte der junge George sein Bett gehabt, da kann ein junges Mädchen natürlich nicht einziehen.
Das Bild, das Forster von den Engländern zeichnet, zumal von denen, die sich zur besseren Gesellschaft zählen, ist geprägt von klaren Moral-, vor allem aber Formvorstellungen. Gewisse Dinge tut man eben nicht, gewisse Menschen meidet man, überhaupt ist das „man“ das alles beherrschende Subjekt.
Demgegenüber steht das südliche Italien, ein Land, in dem das Leben auf der Straße stattfindet, das frei von starren Konventionen ist. Doch Forster idealisiert nicht. Der sonnige Süden ist keineswegs ein Paradies auf Erden, im Gegenteil. Die Pension Bertolini, in der die junge Lucy und ihre Cousine in Florenz unterkommen, ist heruntergekommen, nicht gerade reinlich, und die Besitzerin ist eine Engländerin mit Cockneydialekt und zählt damit zu den Zeitgenossen, mit denen man keinen Umgang pflegt, wie den beiden Emersons in derselben Pension, die dazu noch als „Sozialisten“ gelten. Das Leben in Italien ist gefährlich, auf offener Straße stirbt ein Mensch bei einer Messerstecherei. Aber Italien dient doch auch als Gegenwelt zu England. Stehen dort Sitte, Anstand und Form im Zentrum, verkörpert Italien Leben, Freiheit und Ungezwungenheit. Das wird deutlich bei einem größeren Ausflug in das Umland. Der italienische Kutscher nimmt ungeniert ein junges Mädchen mit auf den Kutschbock und poussiert mit ihr, was für einen Engländer unziemlich wäre. Dennoch „vergisst“ George sich, wie es später im Roman formuliert wird – später, das heißt zurück in England, wo man eben nicht ausspricht, was sich nicht gehört. Hier in Italien ist der Erzähler weniger zurückhaltend, hier spricht er aus, was unter freiem Himmel passiert ist: George hat einer momentanen Eingebung folgend Lucy geküsst.
Wie in seinem Roman Wiedersehen in Howards End werden auch hier alle Figuren mit Ironie bedacht, die Engländer ebenso wie die Italiener, aber in diesem Fall zeichnet Forster mit seiner Heldin Lucy doch auch das Modell einer Vorbildheldin, denn Italien verändert die junge Frau. Zwar nimmt sie, wieder zurück in England, den Heiratsantrag des reichen Müßiggängers Cecil Vyse an, und ohne ihr Italienerlebnis hätte sie wohl auch keinerlei Vorbehalte empfunden, doch nach der freien Atmosphäre des südlichen Landes, das ihr als Symbol für Gleichheit unter den Menschen erscheint, erkennt sie, dass die Lebensweise im Heimatland sie zu ersticken droht. Lucy steht nicht für Emanzipation, aber für den Wunsch nach Anerkennung – durch ihre Familie, vor allem durch ihren künftigen Mann, und das kann Cecil ihr nicht bieten.
Am Ende steht ein Happy End: Lucy und George werden ein Paar, landen wieder in Italien und haben eine Zukunft in Armut vor sich, aber im Glück. Für Forster wäre das ein ideales Ende, aber er weiß, dass so etwas im Jahr 1907 unrealistisch ist, und rückt dieses Ende mit Metaphern in die Sphäre der Legende und des Mythos. Der Roman endet mit einer Utopie.
E. M. Forster, Zimmer mit Aussicht. Eine Liebesgeschichte. S. Fischer Verlag, 416 Seiten, 12 Euro (Taschenbuch 9.99 Euro)