Er ist ein Meister der fiktiven Biographie. Wer einen Roman von Paul Auster aufschlägt, darf in der Regel erwarten, nicht einfach nur einen Helden samt seiner Lebensgeschichte vorgeführt zu bekommen; meist suchen seine Figuren Alternativbiographien, reisen quer durch den nordamerikanischen Kontinent, verfolgen die Lebensspuren anderer Figuren. Paul Auster hat in seinen Romanen das Phänomen „Leben“ in allen Facetten studiert, manchmal in der Tradition des realistischen Erziehungsromans, manchmal mit geradezu surrealer Künstlichkeit. So trug ein Roman den Titel Das Buch der Illusionen. Jetzt hat er einen Roman geschrieben, der alle seine bisherigen Werke übertrifft, und zwar mit über 1200 Seiten nicht nur vom Umfang her.
Es beginnt mit einer Anekdote, die schon so oft erzählt wurde, dass sie wie ein Klischee wirkt. Ein russischer Jude möchte in die USA einreisen, und ein Mitreisender rät ihm, vor der Einwanderungsbehörde nicht seinen russischen Namen anzugeben, sondern einen typisch amerikanischen wie etwa Rockefeller. Doch der Einwanderer vergisst vor Aufregung den Namen, sagt auf jiddisch „Ick hob vergessen“, der Beamte versteht „Ichabod Ferguson“ und trägt den Namen entsprechend ein.
Der Roman beginnt also mit einer neuen Identität – und gibt damit das Thema für die folgenden 1200 Seiten vor. Auster verfolgt die Geschichte eines Enkels dieses Urvaters und erzählt sie uns chronologisch, allerdings nicht nur einmal, sondern gleich viermal. In sieben Kapiteln breitet er die einzelnen Lebensphasen dieses Archibald Ferguson vor und aus, in jeweils vier Varianten. Es geht um nichts weniger als die Frage, was macht die Identität eines Menschen aus, was bestimmt seinen Lebensweg? Es ist stets derselbe Archie mit denselben Genen, denselben Eltern, Großeltern – und doch sind es vier Biographien, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
So verliert einer dieser Archies frühzeitig seinen Vater – so etwas verändert das ganze Leben; bei Archie Nummer vier lassen sich die Eltern scheiden. Sein Verhältnis zum Vater verschlechtert sich drastisch. Jede Veränderung im finanziellen Status der Eltern hat Konsequenzen im Leben des Sohnes. Die Mutter heiratet einen Freund der Familie, dessen Tochter wird Archies Stiefschwester, es kann nur ein freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden bestehen, im Unterschied zu einem anderen Archie, bei dem sich diese Beziehung mit zahlreichen Veränderungen jahrelang hinzieht.
Ein Archie verliert bei einem Unfall zwei Finger, der Unfall prägt sein weiteres Leben, veränderte er doch sein Verhältnis zu seiner Cousine, die am Steuer saß. Vor allem beendet der Verlust seiner Finger vorschnell seine angestrebte Baseballkarriere. Er wendet sich stattdessen dem Journalismus zu, was sein späteres Berufsleben bestimmen soll.
Auch Ferguson Nummer 2 hat einen Unfall und stirbt. Bei den folgenden Lebensphasen fügt Auster zwar immer noch eine Titelseite für diesen Archie ein, doch danach folgt nichts, und dieser Archie ist nicht der einzige dieser vier Archies, der in diesem Roman stirbt.
Immer wieder blitzt bei den Protagonisten der Tenor dieses Romans durch: Was wäre, wenn? Gibt es mich nur einmal? Vereine ich mehrere Identitäten in mir? Einmal sinniert einer dieser Archies: „Ja, alles war möglich, und nur, weil etwas auf eine bestimmte Weise geschah, hieß das noch lange nicht, dass es nicht auf eine andere Weise geschehen könnte. Alles konnte anders sein.“
Am Ende bleibt nur ein Archie übrig, der Protagonist, der Paul Auster am meisten ähnelt und Schriftsteller wird, denn so wie in seinen früheren Romanen immer wieder Parallelen zum Leben Austers auftauchen, schreibt Auster gewissermaßen sein Alter Ego in diesen Roman ein, und das nicht nur, weil Archie nahezu gleich alt ist wie sein Romanschöpfer, in derselben Stadt aufwächst, Newark, und alle Archies wie Auster eine Vorliebe für Baseball haben. Auster zitiert in seinem neuen Werk sogar Figuren aus früheren Büchern.
Der Roman ist brillant geschrieben, doch die Vorliebe für den in Deutschland weniger bekannten Sport Baseball führt zu langen Exkursen, desgleichen zur Geschichte der amerikanischen Studentenbewegung, die für den deutschen Leser mühsam zu verfolgen ist. Vor allem sollte man, um die Botschaft des Romans nachvollziehen zu können, Notizen zu den einzelnen Wendepunkten im Leben dieser vier Protagonisten machen, damit man in der Lage ist, die Folgen nachzuverfolgen, die deren Leben prägen.
Am Ende trifft Archie Ferguson gewissermaßen Paul Auster, es ist der Archie, der sich schon früh an Erzählungen gewagt hat und nun, am Ende, den Roman zu schreiben beginnt, den Auster mit diesem Buch vorgelegt hat.
Auster hat ein Buch über die Frage geschrieben, wie viele Haken der Lebenslauf eines Menschen schlägt, wie viele Wendepunkte sich aus diesen Haken ergeben können, wie oft aus einem Menschen ein ganz anderer werden kann, der doch derselbe bleibt. Es ist sein vielleicht konstruiertester Roman, der zugleich sein realistischster ist, weil er dem Wesen des Phänomens „Leben“, „Identität“, „Biographie“ am nächsten kommt. Es ist sein weisester Roman, die Summe seines bisherigen Schreibens.
Paul Auster. „4321. Roman“, Rowohlt Verlag, 1264 Seiten, 29.95 Euro