Krasser geht es kaum mehr: Weil die Familie zu wenig zu essen hat, werden die beiden Kinder im Wald ausgesetzt, weil sonst Kinder und Eltern verhungern würden. Als Engelbert Humperdinck diesen Stoff in eine Märchenoper verwandelte, milderte er die Grausamkeit; bei ihm werden die Kinder in den Wald geschickt, um Beeren zu sammeln, wobei sie sich dann verirren und beim Knusperhäuschen der Hexe landen. In beiden Fällen sind Armut und Hunger die Motive des Geschehens, und so suchte Kirill Serebrennikov für seine Stuttgarter Inszenierung eines der am stärksten von Armut und Hunger heimgesuchten Gebiete dieser Welt auf. Er reiste nach Ruanda und drehte dort einen Märchenfilm nach den Gebrüdern Grimm und nach Humperdinck.
Hätte ein Frank Castorff diesen Einfall gehabt, dann hätte er per Video die afrikanische Welt in seine Bühneninszenierung gelegentlich einblenden lassen, so wie er es in seiner fulminanten Stuttgarter Inszenierung von Charles Gounods Faust getan hatte, schließlich zieht dort der Bruder von Margarethe in die Schlacht.
Serebrennikov aber wollte nicht einen operntheatralischen Bilderbogen, bei dem sich am Ende die ganze Katastrophe auch noch in Nichts auflöst, mit der aktuellen Hungersnot illustrieren, er suchte nach einer neuen Erzählform für die Oper, die im Fall von Hänsel und Gretel szenisch heikel ist, da das Stück lange sinfonische Passagen enthält – und fand sie im Video. Sein Film besteht nicht aus einzelnen Szenen, sondern umfasst die ganze Märchenhandlung, gedreht an aktuellen Schauplätzen. Wie sich Film und Bühnenrealität miteinander mischen, vereinen, sogar miteinander verschmelzen sollten, das freilich weiß nur Serebrennikov, der auch Bühnenbild und Kostüme gestaltete; Teile davon sind fertig, doch weiter konnte die Arbeit an der Inszenierung nicht gedeihen, denn Serebrennikov steht seit Monaten in Moskau unter Hausarrest, ihm droht ein Prozess.
Intendant Jossi Wieler entschloss sich, ein Signal zu setzen: Die Kunst sollte nicht vor der Politik kapitulieren, der Premierentermin wurde beibehalten. Freilich konnte eine Inszenierung von Serebrennikov nicht aufgeführt werden, und so fehlen denn auch im Programmheft die Rubriken Regie, Bühnenbild, Kostüm. Mit der Wieler eigenen konsequenten Logik, die sowohl seine Inszenierungen wie auch seine Leitung der Oper Stuttgart auszeichnet, lässt er Hänsel und Gretel ankündigen: „Ein Märchen erzählt von Kirill Serebrennikov“ – damit ist der Film gemeint, der nahezu fertig gestellt werden konnte. Das Ganze sei ein „Musiktheater gestaltet vom Ensemble der Oper Stuttgart“. Präziser hätte man es nicht formulieren können. So erlebt der Besucher ein Opernereignis, das weniger ist als eine herkömmliche Inszenierung und zugleich ein Mehr bietet, weil hier eben alles anders ist als sonst, vor allem die Produktionsbedingung. Das betrifft vor allem die Sänger. Sie erhalten üblicherweise vom Regieteam Vorgaben für das, was sie auf der Bühne verkörpern sollen, erarbeiten den Opernabend zusammen mit dem Team, hier aber waren sie auf sich gestellt. So sehen wir nicht nur von Sängern verkörperte Figuren, sondern sehr viel mehr von den Sängern selbst als sonst üblich. Sie stellen sich denn auch zunächst als Figuren dieser Oper vor, tragen aber Alltagskleidung.
Was dann hätte folgen können, wäre eine Art konzertanter Aufführung zum Film, die Musik also degradiert zum Soundtrack, gewissermaßen Video mit obligater Musik. Danach sieht es zu Beginn auch aus. Die Sänger sitzen auf Stühlen und verfolgen den Film, der zu den ruhigen Klängen der Ouvertüre Humperdincks in die Naturschönheit Ruandas einführt. Wir sehen bei den bewegteren Passagen die Menschen bei der Arbeit, beim Flicken von Fischernetzen; zu heftigen Rhythmen zeigt der Film in Nahaufnahme, wie die Näpfe mit kargen Speisen auf offenem Feuer geschüttelt werden.
Serebrennikov hat jedoch nicht einfach die Handlung im Film nachgezeichnet, sein Film folgt ganz der Musik, entsteht aus ihr heraus. Er entspricht in Atmosphäre, vor allem Rhythmus ganz der Oper, es ist ein aus der Oper heraus komponierter Film.
Und ästhetisch kongenial verhalten sich die Sänger/Figuren dazu. Ihre Bewegungen sind inspiriert vom Bewegungsrhythmus des Films, von den dort agierenden Figuren. Die Aktionen der Sänger entwickeln sich ähnlich aus dem Film heraus wie der Film aus Humperdincks Musik, freilich nur im Halbdunkel, weshalb man genau hinsehen muss.
Der Film aber ist mehr als nur Märcheninhalt und Opernmusikalität, er ist zugleich ein Plädoyer. Serebrennikov blendet Fotos der ermordeten Kindersoldaten während des Völkermords 1994 ein – und mischt unter diese Fotos auch die der beiden Filmdarsteller der Protagonisten, denn auch sie könnten in einer solchen Welt der Armut und Gewalt nur zu leicht zu den Toten gehören.
Wenn der Hexenritt ertönt, dann pausiert der Film. Eingeblendet werden wir, die Premierenbesucher, denn das Hexenhaus, das ist die Konsumwelt des Westens.
Durch sie streifen die beiden Kinder, die es im 3. Bild der Oper nach Stuttgart verschlägt, es ist die Welt der Glaspaläste und Warenauslagen – so wie im Märchen die beiden Kinder geblendet werden vom Hexenhaus und seinen Fenstern aus Zucker. Und Serebrennikov weiß genau, wann er mit dem Film die Welt dieser Oper nicht mehr erreichen oder künstlerisch nachvollziehen kann: Die Hexe ist reiner Theaterauftritt. Serebrennikov wünschte sich einen Tenor, obwohl Humperdinck sich vehement gegen einen Mann in dieser Rolle ausgesprochen hatte, doch was Daniel Kluge an schauspielerisch-szenischem-sängerischem Impetus in die Rolle einbringt, lässt Zweifel an Humperdincks Abneigung gegen einen Sänger aufkommen. Auch die übrigen Mitwirkenden werden in jedem Detail den schwierigen Gesangsanforderungen gerecht. Esther Dierkes etwa mit einem klaren, hellen, „mädchenhaften“ Sopran, Diana Haller mit der Lockerheit und Burschikosität, die sie als Mezzosopranistin durch so manche Hosenrolle gewohnt ist und grandios auf die Bühne bringt.
Was dann folgt, könnte dem entsprechen, was Serebrennikov als Synthese von Film und Bühne vorschwebt. Die Sphären vermischen sich subtil – hier hat das Ensemble unter der Leitung von Dramaturgin Ann-Christine Mecke Grandioses geleistet: Die Bühne verwandelt sich dem Film an – der Stuttgarter Kinderchor trägt dieselben weißen Shirts wie zuvor die afrikanischen Kinder im Film –, dann verwandelt sich der Film der Oper an – die beiden afrikanischen Geschwisterdarsteller stehen im Film in der Loge der Stuttgarter Oper und sehen die Schlussszene der Oper unten auf der Bühne.
Brillanter hätte man die Einheit von Oper, Film und Bühne nicht realisieren können – und die Oper Stuttgart hat ein Plädoyer für die Kinder der Welt, für die Hoffnung und gegen die Gewalt auf die Bühne gebracht. Standing ovations – und das, obwohl der Abend nur vorläufig ist, denn Kirill Serebrennikov wird die Arbeit so auf die Bühne bringen, wie er es geplant hatte, sofern und sobald ihn die russische Polizei lässt.