Welche Dramatik! Eine halbe Stunde lang liefern sich zwei Frauen mit Wort und Mimik einen Kampf bis aus Blut – Mutter und Tochter. Auf der einen Seite Klytaimnestra, die ihren Gatten Agamemnon ermordet hatte, um mit ihrem Geliebten Aigisthos gemeinsam als Ehepaar auf dem Thron zu sitzen, auf der anderen ihre Tochter Elektra, die nur ein Ziel hat, den Mord an ihrem Vater zu rächen. Solche Charaktere und Konstellationen sollte erst zwei Jahrtausende nach Euripides, Sophokles und Aischylos ein Shakespeare wieder auf die Theaterbühne bringen mit einem Ehepaar Macbeth, das aus Ehrgeiz vor keinem Mord zurückscheut.
John von Düffel hat aus vier Tragödien ein Stück um Frauen in der Antike herausdestilliert, Stephan Kimmig hat es für das Schauspiel Stuttgart inszeniert. Kernstück des Theaterabends ist eben jene Szene, in der die beiden Frauen vor Hass und Wut geifern, die eine ihre Schuld zu rechtfertigen versucht, die andere keine Entschuldigung gelten lassen will. Astrid Meyerfeldt zieht in dieser halben Stunde virtuos alle sprachlichen Register, um sowohl die unantastbare Herrscherin herauszukehren als auch zugleich deutlich zu machen, dass sie im Grunde ihres Herzens nicht weiß, wie sie mit dieser Schuld fertig werden soll. Anja Schneiders Elektra hält dem ihre unerschütterliche Überzeugung entgegen, dass diese Schuld nur durch Tod gesühnt werden könne. Grandios verdrängt diese Elektra, dass sie möglicherweise einmal eine liebende Tochter gewesen sein könnte, und mit dieser Verdrängung unterdrückt sie auch – Shakespeares Lady Macbeth verwandt – das Weibliche in sich.
Das ist eine halbe Stunde großes Theater – mimisch wie verbal aufregend in jeder Sekunde. Freilich: die Stunde, die dem vorausging, ließ derart subtile Schauspielkunst vermissen. John von Düffel hat der Emotionalität der antiken Tragödensprache vertraut und in seiner Collage ganz auf ihre Ausdruckskraft gebaut, so sehr, dass er auf den griechischen Chor verzichtete und sich ganz auf die Seelenäußerungen der Protagonistinnen konzentrierte. Kimmig hingegen schien dieses Sprachvertrauen nicht zu haben, er ließ über weite Strecken die Schauspielerinnen wuteifern bis zur Unverständlichkeit, wo doch die bloße, aber präzise Artikulation der alten Verse mehr Sprengkraft gehabt hätte. Dadurch verlieren die Figuren an Tiefe, gerieren sich nicht selten lächerlich. Hinzu kommt der Versuch, das Blutrünstige der Handlung nicht platt ausspielen zu lassen. Die Morde finden bei Kimmig nicht auf offener Bühne mit scharfer Klinge und spritzendem Blut statt; sie werden durch Plastikeimer (vermutlich voller Blut) und blutgetränkte Tücher angedeutet, bleiben aber in dieser Inszenierung rein pantomimisch und blass, bar jeder tragischen Dimension und Durchschlagskraft.
Nur gelegentlich gelingen Kimmig kurze eindringliche Szenen, die dem Zuschauer den Kern dieser Figuren näher bringen.
Elektra: Anja Schneider, Orest: Sandra Gerling. Foto: Conny Mirbach
Wenn Elektra ihren totgeglaubten Bruder Orest wiedersieht, tollen die beiden längst dem Kindesalter Entwachsenen umher, als seien sie wieder auf dem Spielplatz ihrer Kindheit. In diesem seltenen Augenblick finden sie noch einmal ein seelisches Glück, das ihnen durch die Grausamkeit ihrer Mutter versagt blieb. Und wenn Orest, angestachelt durch die Schwester, die Mutter schließlich umbringt, ist er mit seinem Potential an Hass am Ende, zittert am ganzen Leib und ist zu weiteren Taten kaum mehr fähig.
John von Düffels Textcollage zeigt eine Welt, in der die Frauen uneingeschränkt ihrem emotionalen Impetus folgen – koste es was es wolle. Die Männer spielen in dieser Welt kaum eine Rolle. So ist denn auch Klytaimnestras neuer Gatte, Aigisthos, ein verweichlichter Herrscher. Weich aber ist auch Orest – und hier geht Kimmigs Konzept nicht auf, alle Figuren, Männer wie Frauen, von Schauspielerinnen verkörpern zu lassen, denn es fehlt der Gegenpol zu den toughen Frauen. Da zudem einige Schauspielerinnen mehrere Rollen übernehmen, schwindet die Chance der Zuschauer, die sich vorher nicht in die Vertracktheiten der antiken Tragödienhandlung eingelesen haben, dem Geschehen folgen zu können. So bleibt ein Theaterabend, der der Wiege der Demokratie, der griechischen Antike also, den Nimbus des Vorbildhaften entreißt und in der Aussage gipfelt, dass Böses lediglich Böses hervorruft. Dazu aber hätte es der Bühne nicht bedurft, und dieser Inszenierung erst recht nicht.