Weltkommentar mit der Blechtrommel. Der Grass-Roman am alten Schauspielhaus in Stuttgart

Als Günter Grass 1959 seinen Roman „Die Blechtrommel“ veröffentlichte, erhielt er wegen seiner völlig neuen, stilistisch überbordenden Sprache Lobeshymnen, aber auch wütende Verrisse. Seine Geschichte um den kleinen Oskar Matzerath, der sich angesichts der heuchlerischen Welt um ihn herum weigert, weiter zu wachsen, und seine Kommentare mit einer Trommel zu Gehör bringt, war nicht zuletzt auch wegen ihrer sexuellen Freizügigkeit in Adenauers Wirtschaftswunderdeutschland ein Affront. Inzwischen gilt die „Blechtrommel“ als Meilenstein in der Romanliteratur des 20. Jahrhunderts, brachte dem Regisseur Volker Schlöndorf für dessen Verfilmung mit dem kleinen David Bennent als Oskar Matzerath einen Oscar. Jetzt hat der Regisseur Volkmar Kamm eine Bühnenversion erstellt und am Alten Schauspielhaus in Stuttgart inszeniert.

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                                                                                           Raphael Grosch. Foto: Sabine Haymann

Als sich Volker Schlöndorf 1979 an die Verfilmung der „Blechtrommel“ machte, griff er zunächst zum Rotstift, dringend nötig, denn Günter Grass‘ Roman ist selbst in der eng gedruckten Taschenbuchausgabe 500 Seiten stark. Schlöndorf strich die Rahmenhandlung und ließ seinen Film mit der berühmten Szene beginnen, in der die Großmutter des Helden Oskar auf dem Kartoffelacker einem Brandstifter auf der Flucht unter ihren Röcken Zuflucht vor der Polizei gewährt. Damit aber vergab sich Schlöndorf eine wesentliche Dimension des Buchs, denn dort ist Oskar Insasse einer Irrenanstalt, und man weiß nie, ob man dem Bericht über sein Leben, den er dort verfasst, Glauben schenken darf. Regisseur Volkmar Kamm dagegen hielt sich in seiner Bühnenbearbeitung für das Alte Schauspielhaus eng an die Romanvorlage, und so erleben wir gleich zu Beginn Oskar im Bett in der Anstalt.

Auf diese Weise muss Kamm nicht vorgaukeln, sein Oskar sei ein kleiner Junge, denn Oskar hatte sich ja seit seinem dritten Geburtstag geweigert, weiter zu wachsen. Raphael Grosch also kann in der Rolle des Oskar über weite Strecken ganz aufrecht gehen, denn der volljährig gewordene Oskar hatte sein ausgebliebenes Wachstum nachgeholt. Dann folgt sein Bericht über seine Großmutter auf dem Kartoffelacker.

Danach betreten Schauspieler die Bühne, und Oskars Bericht wird zur Theaterszene zwischen dem Polizisten und der Großmutter.

Diese Mischung aus Erzählung und szenischer Realisierung prägt Kamms ganze Inszenierung. Sie ist eine Kombination von Pantomime, realistischem Theaterspiel und Erzählung. Mit dieser Verbindung der unterschiedlichsten theatralischen Spielformen kommt Kamm fulminant dem ständigen Wechsel der Stilebenen von Grass‘ Roman nahe. Wenn Oskar von der Heirat seiner Eltern erzählt, dann taucht auf der Drehbühne ein überdimensionaler Bilderrahmen auf; Braut und Bräutigam treten hinein, werden grell angestrahlt – und mutieren zum Hochzeitsbild.

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Sophie Schmidt und Carsten Klemm
Foto: Sabine Haymann

Als Oskar nach dem Kriegsende erfolgreich mit seiner Trommel auf Tournee geht, dann wird auf einem rasch auf die Bühne gefahrenen Klavier der Song vom Bruttosialprodukt intoniert. Auf diese Weise erzielt Kamm einen faszinierenden Sog. Und wenn Oskar bei ihm in den Szenen als kleinwüchsiger Junge auftritt, dann rutscht Grosch eben auf den Knien über die Bühne.

In der zweiten Hälfte des Abends freilich kann Kamm diese szenische Dichte nicht aufrecht erhalten. Allzu sehr ist er bemüht, möglichst viele Szenen des Romans zu erhalten. So verliert sein Stück an Kohärenz, manche Szenen verwirren auch, da sie nur ganz kurz angespielt werden, wie etwa Oskars kurzer Auftritt als Aktmodell an der Kunstakademie.

In Raphael Grosch hat Kamm einen idealen Darsteller. Jungenhaft bis zum Übermut, gibt er zugleich einen scharfsinnigen Beobachter seiner Umgebung und beherrscht die unterschiedlichsten Tonfälle dieses Simplicissimus des 20. Jahrhunderts – etwa in der Szene, in der er in einer Kirche als Jesus zum kleinen Oskar spricht.

Man weiß man bei diesem Oskar nie so recht, ob er nun wahrheitsgemäß erzählt und agiert, oder ob er nicht einfach nur phantasiert – und auch damit bewegt sich Kamm sehr nah an der Romanvorlage von Günter Grass.

 

Günter Grass. Die Blechtrommel. Bühnenversion und Regie: Volkmar Kamm. Altes Schauspielhaus Stuttgart bis 24.10.2015

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