1913 montierte Marcel Duchamp ein handelsübliches Fahrrad-Vorderrad auf einen Hocker und erklärte es zum Kunstwerk. Es war das erste Readymade der Kunstgeschichte. Ein Jahr darauf tat er dasselbe mit einem ebenfalls überall erhältlichen Flaschentrockner. Das war der Beginn der Konzeptkunst, und er stellte damit ganz neue Fragen zum Wesen der Kunst. Auch der 1980 geborene Fabian Knecht arbeitet mit dem, was er in der Welt vorfindet, wenn auch in ganz anderer Richtung als Duchamp. Und auch er stellt mit seinen Arbeiten grundsätzliche Fragen, mit denen der Besucher der Kunststiftung Erich Hauser in Rottweil derzeit sein Kunstverständnis hinterfragen kann.
Isolation (48°08’51.4“N 8°38’08.8“E) Fotografien bei Studio Fabian Knecht / Photographs by Studio Fabian Knecht
In den 70er Jahren schuf der Bildhauer Erich Hauser am Rand von Rottweil einen riesigen Park für ca. achtzig seiner großen Edelstahlskulpturen. Der Park beinhaltet daneben seine zwei Wohnhäuser und seine Werkstatt. Für die kommenden vier Wochen befindet sich auf diesem Areal ein weiteres Gebäude. Fabian Knecht, der in diesem Jahr den Werkstattpreis der Kunststiftung Erich Hauser erhielt, hat einen Gebäudequader errichten lassen, in dem sich, überspitzt formuliert, nichts anderes als ein Stück des Hauserschen Parks befindet, nämlich ein Stück Wiese und eine Hauser-Plastik.
Knechts Arbeit ist Teil einer ganzen Reihe ähnlicher Projekte, bei denen er ein Stück Realität mit einem Gebäude vom umliegenden Umfeld abtrennt. Damit macht er das Gegenteil von Marcel Duchamp, denn während Duchamp ein Stück Realität – ein sogenanntes Readymade, einen Alltagsgegenstand – ins Museum platzierte, kreiert Knecht gewissermaßen für ein Stück Realität ein eigenes ,,Ausstellungsgebäude“. ,,Isolationen“ nennt er diese Realitätsstücke, die aus dem bisherigen Kontinuum in der Realität – einer Wiese, einer Brache – herausgehoben werden. Im Titel erweist er diesem Stück Realität die Ehre, indem er zum Titel Isolation noch die geographischen Koordinaten hinzufügt, im Fall der Rottweiler Aktion ist es Isolation (48°08’51.4“N 8°38’08.8“E).
Die Fragen, die er mit seinem Vorgehen aufwirft, scheinen denen von Duchamp ähnlich, und weisen doch in eine ganz andere Richtung. Duchamp machte deutlich, dass ein Kunstwrk nichts anderes ist als die Setzung durch einen Künstler. Er definiert sein Werk als Kunst – und unterstreicht diese Definition, indem er das Objekt in einen ,,Kunsttempel“ neben althergebrachte Kunstwerke stellt. Knecht dagegen bringt gewissermaßen den Ausstellungsraum – das ,,Museum“ – zur Natur, die per definitionem von allein Gewachsenes, also Nichtkunst ist, und macht sie dadurch zum Kunstwerk, zum Artefakt. Die Fragen nach dem Wesen der Kunst führen dabei zu ähnlichen Antworten wie bei Duchamp. Alles kann zur Kunst erhoben werden, nur ist diese Erhebung bei Knecht sehr viel drastischer, denn hier erhält ein Stück Realität ein eigenes Museum.
Es stellt sich aber zugleich auch die Frage nach dem Phänomen Museum. Ist es eine Ansammlung von verschiedenen ,,Kunstwerken“, oder ist es durch die Tatsache, dass es ein Ausstellungsraum ist, bereits ein Museum? Wie steht es mit dem Faktor Zeit? Museen sind in der Regel dazu da, Kunst zu retten, zu bewahren, auf Dauer der Menschheit zugänglich zu machen. Knechts Isolationseingriffe dagegen sind grundsätzlich temporär. Das Gebäude wird nach einigen Wochen entfernt, das Stück Realität, das für diesen Zeitraum der Welt enthoben und zum Exponat geworden ist, wird der Realität wieder zurückgegeben. Der Hauserpark in Rottweil wird im nächsten Sommer an dieser Stelle aussehen, als wäre nichts gewesen.
Dann erheben sich Fragen nach dauerhafter Substanz und vorübergehender Erscheinung. Knecht verwandelt vorübergehend ein Stück Natur in ein Exponat. Somit verändert er die Sicht auf die Natur. So wie wir ein Gemälde eines großen Künstlers Detail für Detail studieren, weil sich in jedem Quadratzentimeter neue Geheimnisse verbergen können, ist der Besucher des Knechtschen Innenraums geneigt, jeder Blüte sein Augenmerk zu schenken, mehr als er es in der freien Natur tun würde.
Isolation (Stamm), 2018 Courtesy Fabian Knecht und Alexander Levy
Knecht hat derlei in den vergangenen Jahren mit verschiedenen Formen der Natur gemacht. Mal war es eine dürr bewachsene Brache, mal ein Feuchtbiotop, mal ein einzelner Baumstamm, der durch die Decke des temporären ,,Museums“ ragte. Stets verwandelte sich dabei das vertraute Stück Natur. Denn indem Knecht einen Teil einer Wiese mit einem Gebäude überbaut, schneidet er gewissermaßen ein Stück dieser Wiese aus; er fragmentiert einen Auschnitt der Welt und macht ihn zu einem Bild auf Zeit.
In Rottweil kommt noch eine weitere Dimension hinzu, denn hier handelt es sich nicht nur um ein Naturobjekt, sondern auch um ein Kunstwerk. Für Knecht ist die Plastik von Erich Hauser letztlich nichts anderes als ein Readymade, ein Stück vorgefundene Realität, letztlich also nichts anderes als der Baumstamm, den er in Baden-Baden vorübergehend isolierte, und er trifft sich damit auch noch mit Hausers eigenen Intentionen, der seine Skulpturen einmal mit Bäumen verglich. In diesem Fall aber unterscheidet sich Knechts Isolation von den bisherigen, denn seither hatte er das Stück Realität, das er mit seinem Gebäude aus dem Rest der Welt heraushob, so belassen, wie er es vorgefunden hatte. In Rottweil jedoch stand an der Stelle, an der jetzt sein Gebäude mit der Hauserplastik steht, keine Plastik, und die Blumenwiese, die der Plastik beigegeben ist, wurde eigens ausgesät. Zum ersten Mal hat Knecht also etwas Künstliches in sein temporäres Museum eingefügt. Daher hat er wohl auch darauf verzichtet, die Plastik unmittelbar in die Wiesennatur zu stellen, sondern hat beide Teile – Naturwiese und Kunstplastik – einander gegenübergestellt. Der Besucher kann nun den Dialog dieser beiden Sphären auf sich wirken lassen, oder aber, indem er sich in die Wiese kniet, den Eindruck einer Plastik in der Natur herstellen. Er wird ungleich aktiver in das Kunstgeschehen integriert als bei den früheren Isolationen Knechts. Inwieweit sich das auf Fabian Knechts künftige Arbeiten auswirken könnte, bleibt abzuwarten. Es dürfte für Knecht jedenfalls eine ganz neue Herausforderung gewesen sein.
Und neben allem konzeptuell Gedanklichen hat Knecht ein ästhetisches Erlebnis kreiert, einen Meditationsraum, in dem man sich am besten allein seinen Reflexionen hingeben sollte. In Zeiten von Corona ohnehin die beste Lösung.
,,Fabian Knecht. Isolation (48°08’51.4“N 8°38’08.8“E)“. Kunststiftung Erich Hauser, Rottweil, bis 25.10.2020, Mittwoch und Donnerstag 17-19, Samstag und Sonntag 13-17 Uhr. Katalog 41 Seiten