Über hundert Bücher soll Frances Trollope verfasst haben, obwohl sie erst mit über fünfzig damit angefangen hatte, so berichtet es ihr Sohn Anthony, dem sie dadurch bei seinem bescheidenen Salär im Postdienst zu Beginn unter die Arme greifen konnte, bis er selbst mit Anfang dreißig zu schreiben begann. Er brachte es „nur“ auf knapp fünfzig Romane, was ihm die Kritik als Vielschreiber einbrachte. Das freilich muss kein negatives Qualitätsurteil sein; ihm gelangen brillante Porträts der englischen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In einem seiner besten und mit rund tausend Seiten längsten Bücher zeichnete er 1875 das unterhaltsame und präzise Bild seiner Gesellschaft, die er sehr kritisch sah. Deutsche Verlage haben sich mit seinen Büchern schwer getan, jetzt ist sein vielleicht bedeutendstes in einer neuen Übersetzung erschienen: The Way We Live Now – Umwälzungen. Ein Gesellschaftsroman.
Anthony Trollope, Umwälzungen – Erster Band
Der Anfang dieses Romans mag manchem Leser ein wenig spröde erscheinen. Auf nicht weniger als acht Seiten werden drei Briefe wiedergegeben, die eine der Hauptfiguren, Lady Carbury, an drei Verleger schreibt in der Hoffnung, ihr neues Buch veröffentlichen zu können. Und doch sind diese Anfangsseiten ein Beispiel für Trollopes Begabung, Figuren zu charakterisieren, indem er sie selbst sprechen lässt. Lady Carbury weiß, dass sie keine große Schriftstellerin ist; ihr kommt es nur darauf an, in den Augen der Kritiker bestehen zu können und mit ihren Büchern Geld zu verdienen: Diese ersten Seiten sind eine großartige Satire auf das literarische Leben zumindest zu Trollopes Zeit, das ohne Korruption und Schmeichelei nicht auszukommen scheint.
Geld braucht die Lady, denn ihre Ehe war alles andere als ein Erfolg, ihr Sohn Felix, der gleich im zweiten Kapitel vorgestellt wird, ist ein Musterbeispiel für Egozentrik, und nebenbei muss sie auch noch dafür sorgen, dass ihre Tochter Hetta zumindest durch eine attraktive Ehe auf den erfolgreichen rechten Weg einer Frau in dieser Zeit geschickt wird.
Und damit befindet sich der Leser mitten im zentralen Thema des Buchs: Trollope porträtiert seine Welt – das Leben in der englischen Hauptstadt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in der fast nichts mehr so ist, wie man es jahrhundertelang gewohnt war: Der Adel hat seine dominierende Position verloren und ist darauf angewiesen, Geld durch Heirat an Land zu ziehen, die nichtadligen, aber geschäftlich erfolgreichen „Bürgerlichen“ dagegen sind durch ihre pekuniäre Macht in der Lage, durch Heirat an einen immer noch in hohem Ansehen stehenden adligen Titel zu kommen – Niedergang des Adels, Aufstieg des Bürgertums, eine Sozialgeschichte.
So kreuzen sich die Wege von Lady Carbury – und mit ihr die der übrigen Carburys stellvertretend für die Welt des Adels – zwangsläufig mit denen des reichen und skrupellosen Augustus Melmotte, dessen Herkunft fragwürdig, dessen finanzielle Macht aber unbestritten ist und ihm sogar einen Platz im Parlament einträgt. Trollope hat mit diesen gesellschaftlich so konträren Figuren zwei wesentlichen Pfeilern des englischen Gesellschaftssystems Leben eingehaucht, wie kaum ein zweiter Romancier seiner Zeit es vermochte. Dabei vermeidet er Schwarzweißmalerei: Selbst Felix Carbury, dessen charakterliche Schwächen auf der Hand liegen, wird nicht ohne Sympathie geschildert. Trollope schreibt stets mit Zwischentönen und bedenkt alle Figuren mit leiser Ironie, sprachlich brillant auf den Punkt gebracht.
Wer Einblick in das subtil geflochtene, stets dem Zerreißen nahe Gewebe der englischen Gesellschaft und in deren unterschiedliche Bereiche erhalten möchte, ist mit Trollope so gut bedient, als hätte er ein historisches Standardwerk in Händen, nur sehr viel unterhaltsamer und sehr viel detaillierter.
Trollope gelang mit diesem Buch einer der faszinierendsten Romane des 19. Jahrhunderts, der auch im 21. Jahrhundert nicht Staub angesetzt hat, weil seine Figuren und deren Konstellationen raffiniert durchdacht und glaubhaft lebensnah geschildert sind. Mit Melmotte gar schuf er eine Figur der Hochfinanzwelt und zugleich ein Porträt der mehr als fragwürdigen Geschäftspraktiken, wie sie auch in der Welt von heute durchaus denkbar wären – Vergleiche möge jeder Leser für sich ziehen.
In Großbritannien zählt Trollope nicht zuletzt durch solche Meriten zu den populärsten Schriftstellern, die es zwar in den Literaturgeschichten nicht auf die Ebene eines Charles Dickens oder einer George Eliot geschafft haben, aber dennoch zu den bedeutendsten Vertretern ihres Metiers zählen. Nur im deutschsprachigen Raum ist er weitgehend unbekannt geblieben. Selbst sein sechsteiliger Zyklus über die Provinzstadt Barchester, die in England so „bekannt“ ist, als gäbe es sie tatsächlich, ist nicht vollständig mit allen Teilen auf den Markt gekommen.
Mit diesem wohl umfangreichsten Werk Trollopes liegt nun in einer neuen Übersetzung die Möglichkeit vor, auch hierzulande einen Autor zu „entdecken“, der bereits vor fast eineinhalb Jahrhunderten starb, dessen Werke jedoch immer noch ohne Einschränkung großes Lesevergnügen garantieren.
„Anthony Trollope: Umwälzungen. Ein Gesellschaftsroman“. Deutsch von Ursula Schäfer-Zerbst, Books on Demand, 2 Bände, 432 und 420 Seiten, jeweils 18 Euro
Es ist unglaublich, aber leider wahr: Ein Großes Werk der Weltliteratur des 19. Jahrhunderts wird erst im 21. Jahrhundert ins Deutsche übersetzt. Leider nur im Book on Demand-Verfahren. Warum hat hier nicht der Manesse Verlag zugegriffen, der fast alle Bücher Trollopes in deutscher Sprache verlegt hat. Die zweibändige Ausgabe hätte es verdient gehabt, zumal die Übersetzung offensichtlich ganz vorzüglich ist: ein wunderbar flüssiges, elegantes Deutsch.
Man wünscht sich noch mehr Übersetzungen von Büchern Trollopes in dieser Qualität.