Weiblich konkret: Konkrete Künstlerinnen im Kunstmuseum Stuttgart

Es war eine radikale Absage an Inhalte in der Malerei. Persönlicher Ausdruck war verpönt. Es galten nur konkrete Dinge wie Farbe, Linie, Fläche. So definierte Theo van Doesburg 1930 die von ihm mit Freunden konzipierte neue Kunst: Die Konkrete Kunst war geboren, eine Kunstrichtung, die völlig auf gegenständliche Beschreibung, Emotion oder subjektiven Ausdruck verzichten sollte zugunsten einer reinen Form. Nichts sei konkreter als eine Linie, eine Farbe und eine Oberfläche, so formulierte es Theo van Doesburg 1930 in seinem Manifest der Konkreten Kunst, weshalb bei den Künstlern dieser Richtung vor allem der rechte Winkel dominiert, zumindest bei den männlichen. Das Kunstmuseum Stuttgart zeigt jetzt die weibliche Seite der Konkreten Kunst.

Natürlich finden sich auch bei diesen Künstlerinnen geometrische Grundformen zuhauf – Vierecke, exakt gezeichnet mit klaren Linien, Kreise perfekt rund. Doch wie sie etwa bei Sophie Taeuber-Arp über die Bildfläche verteilt sind, gleicht eher einem unbeschwerten Spiel von Kindern, sie wirbeln scheinbar durcheinander, geradezu anarchisch, als hätte ein Joan Miró der Künstlerin dabei über die Schulter geschaut.

Wenn sich bei Verena Loewensberg kleine Rechtecke zu Bändern formieren und mäandernd über die Fläche wandern, dann meint man zwar, ein mathematisch exakt ausgerechnetes Muster vor sich zu haben, zugleich aber auch ein phantasievolles in den Raum Sprießen. Wirken die Arbeiten der konkreten Künstler nicht selten statisch, in sich ruhend, starr, so sind die Arbeiten der Künstlerinnen oft ungemein belebt, dynamisch, geradezu impulsiv, so als wollten sie sich einem starren Konzept entziehen.

Damit wirken diese Arbeiten sehr menschlich, lebensnah. Fast hat es den Anschein, als verfolgten die Künstler genau austarierte Konzepte, während die Künstlerinnen den geometrischen Formen Leben einhauchten – und Leben spielte bei ihnen neben der Kunst denn auch eine wesentliche Rolle. Während die Männer strikt ihrer Kunst huldigten, setzten sich die Künstlerinnen nicht selten auch für den Lebensunterhalt ein. Verena Loewensberg betrieb eine Zeitlang zum Geldverdienst einen Schallplattenladen, der nichts mit ihrer Kunst zu tun hatte. Sophie Taeuber-Arp schuf Stickereien, weshalb ihr geometrisches Formenrepertoire durch den Kreuzstich erweitert wurde, gestaltete ganze Räume und Bühnenbilder. Und wenn man den Eindruck hat, die Formen auf ihren Bildern fingen an zu tanzen, entsprach das auch ihrem Leben: Sie studierte bei dem Tanzreformer Rudolf von Laban und schuf Tänze in Zusammenarbeit mit der Ausdruckstänzerin Mary Wigman.

Auch Lily Greenham erweiterte das Ausdrucksmaterial der Konkreten Kunst – sie schuf Sprachmusiken, in denen das Wort die rein konkrete Form des Klangs annahm. Stickerei, Sprache weiteten das Spektrum der Konkreten Kunst aus.

Sonia Delauney hatte es aus finanziellen Gründen zwar gar nicht nötig, aber auch sie widmete sich lange Zeit der angewandten Kunst, betrieb ein regelrechtes Mode- und Einrichtungsgeschäft, entwarf Stoffe, Kleider, Kissen, Lampenschirme und experimentierte hier mit dem Material, das für sie ganz konkrete Bedeutung hatte – der Farbe. Geradezu intuitiv entwickelte sie auf diesen Objekten wie auf ihren Bildern poetische Farbklänge. Und das ist ein weiterer Aspekt dieser Frauen: Sie experimentierten nicht ausschließlich mit streng mathematischen Gesetzen. sondern entwickelten ihre Formenspiele aus dem Gefühl heraus. So ist es kein Zufall, dass Aurélie Nemours ihre Rechtecke und Kreise oft ohne geometrische Hilfsmittel wie Zirkel oder Lineal frei aus der Hand malte. Dadurch wurden die strengen geometrischen Gebilde sehr menschlich, fast natürlich, und sie ließ sich zu ihren Bildern denn auch von Naturphänomenen inspirieren.

Selbst die Arbeiten der am strengsten wissenschaftlich arbeitenden Künstlerin wirken ungemein frei. Vera Molnár bediente sich für die Erarbeitung ihrer Bilder sogar des Computers, und trotzdem bewahrte sie sich in ihren Konstruktionen eine spielerische Leichtigkeit. Das Liniengeflecht ihres schwarz-weißen Kontrastbilds Ode to the West Wind ist zwar streng spiegelbildlich symmetrisch aufgebaut, wirkt aber dennoch geradezu chaotisch unregelmäßig. Sie war es denn auch, die den Grundsatz „1 Prozent Unordnung“ in die Konkrete Kunst einbrachte, einen Satz, der in dieser Kunstströmung aus Männermund vermutlich unvorstellbar wäre.

Diese „Unordnung“ führte schließlich dazu, dass einige Künstlerinnen das feste Korsett des Systems vollständig ablegten.

Die Plastiken von Katarzyna Kobro arbeiten nicht mit dem Prinzip der Raumverdrängung durch die Masse wie die klassische Bildhauerei, ihre Arbeiten aus gebogenen Stahlblechen integrieren den Raum in die Plastik, greifen also die Lebenswelt mit auf. Mary Vieira gar integrierte den Zufall in ihre Arbeiten. Sie gestaltete hohe Säulen aus zahlreichen flachen Scheiben, die frei über eine zentrale Achse angeordnet werden können. Und bei viele Arbeiten von Charlotte Posenenske darf sogar der Besucher der Ausstellung Hand anlegen und die beweglichen Teile der Arbeiten nach Gutdünken verschieben.

Diese Konkrete Kunst ist nicht starr, in sich ruhend, sie bezieht den Betrachter mit ein. Er soll hier nicht, wie bei den meisten konkreten Künstlern, das hinter den Arbeiten liegende System ermitteln, er darf mit seiner Phantasie weiterarbeiten, die Werke in seinem Kopf mit nach Hause tragen. Es ist eine Kunst, mit der der Betrachter nicht konfrontiert ist, es ist eine Kunst, die ihn einlädt zur Mitarbeit, es ist eine hochgradig soziale Kunst – weiblich konkret eben, eine bedeutende Bereicherung der Konkreten Kunst.

zwischen system & intuition: Konkrete Künstlerinnen“, Kunstmuseum Stuttgart bis 17.10.2021. Katalog 132 Seiten, 28 Euro

Ein Gedanke zu „Weiblich konkret: Konkrete Künstlerinnen im Kunstmuseum Stuttgart

  1. Eva-Marina Froitzheim

    Lieber Herr Zerbst,
    ein schöner Artikel. Vor allem der letzte Absatz begeistert mich. Alles auf den Punkt gebracht.
    Herzlichen Dank.
    Viele Grüße
    Ihre Eva Froitzheim

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