In den USA polarisierte der Vietnamkrieg die Gesellschaft, und die Hippiebewegung suchte Liebe statt Krieg. In Deutschland revoltierten die Studenten in den späten 60er Jahren an den Universitäten gegen den Muff von tausend Jahren unter den Professorentalaren, und die RAF sorgte mit Mordanschlägen für Angst vor Terror von links. In dieser Zeit schufen zwei der renommiertesten Choreographen Ballette, die im Nachhinein wie ein Gegenentwurf zur Realität wirken. In den USA gestaltete Jerome Robbins 1969 eine Art idyllische Reminiszenz an schönere Zeiten mit seinen Dances at a Gathering und in Stuttgart präsentierte John Cranko mit seinen Initialen R.B.M.E. ein Plädoyer für Freundschaft und Kollegialität. Das Stuttgarter Ballett hat in seiner neuesten Produktion beide zu einem eigenen Abend verbunden: Begegnungen.
Im Geiste sind sich beide Arbeiten erstaunlich ähnlich, und auch in der Anfangskonstellation. Bei Robbins finden sich wie zufällig zehn junge Menschen zusammen und geben sich ihren Erinnerungen hin – leise, zurückhaltend, wie selbstverständlich. Bei Cranko kommen nach und nach vier Tänzer auf die Bühne, finden sich zur engen Gruppe zusammen, begrüßen sich freundschaftlich, klopfen einander aufmunternd auf die Schulter. Immer wieder werden sie in diesem Ballett auftauchen, so als wäre es selbstverständlich, dass sie ihre Kollegen nicht im Stich lassen. Feierte Cranko eine Hommage auf vier Kollegen, so führte Robbins jugendlich unbekümmertes Beisammensein junger Menschen vor. Allerdings nicht im Hier und Jetzt. Er choreographierte gewissermaßen eine Suche nach der verlorenen Zeit. Zu Beginn betritt ein Mann die Bühne; er schaut versonnen in den Himmel, der den Hintergrund bildet, und unwillkürlich geraten seine Beine in leichte Tanzbewegungen. Das ist kein richtiger Tanz, das ist eine Reminiszenz an Tänze früherer Zeiten. Dem jungen Mann folgen nach und nach weitere Tänzer, und auch bei ihnen ergibt sich der Tanz eher aus einem zaghaften Vorantasten – um dann freilich in ein Feuerwerk tänzerischen Übermuts zu münden. Robbins erzählt mit diesen Szenen keine Geschichte, er bringt unterschiedliche Mentalitäten auf die Bühne, deutet vorsichtig sich anbahnende Beziehungen an. Das alles in bester klassischer Balletttradition, aber immer wieder leicht gebrochen: Mal stampfen die Tänzer zu den Mazurkarhythmen der Musik auf, mal gehen die Tanzschritte über in Alltagsbewegungen. Es ist ein traumverlorenes Erinnern junger Menschen an unbeschwerte Sommertage. Alles ist fließend, und das ist das Moderne an diesem Stück. Robbins verschmilzt modernes Lebensgefühl mit tänzerischer Tradition.
Den Tänzern des Stuttgarter Balletts gelingt diese Schwerelosigkeit, in die sich gleichwohl immer wieder Melancholie mischt, vorzüglich, sie arbeiten die unterschiedlichen Charaktere der Tänzerfiguren minutiös heraus. Da geht es um Anziehung und Ablehnung, um Begehren und Enttäuschung, mit leisem Humor vorgeführt und ebenso leiser Wehmut.
Drei Jahre danach inszenierte John Cranko in Stuttgart großes Konzert, das zweite für Klavier von Johannes Brahms. Dessen aufwallende Klangmassen finden ihr Pendant im rasanten Mit- und Durcheinander der Tänzergruppen. Doch ist dieses zweite Konzert zugleich auch ein intimer Dialog zwischen Klavier und zart intonierendem Orchester, was Cranko zu einer reizvollen Kontrapunktik zweischen Szenen des Corps de ballet und Solopassagen der vier zentralen Tänzer nutzt, denn Cranko hat seinen vier Lieblingstänzern ein Denkmal gesetzt, schon im Titel: Initialen R.B.M.E., sprich: Richard Cragun, Birgit Keil, Marcia Haydée und Egon Madsen. Dabei hat er tänzerisch deren Eigenheiten und Qualitäten gewissermaßen kondensiert. Cragun brillierte mit kraftvollen Sprüngen, Drehungen in der Luft. Ihm folgt das Corps de Ballet entsprechend virtuos. Birgit Keil überzeugte mit dem von ihr geprägten eleganten Tanzstil, schwebt federleicht auf den Armen und Schultern der Männer, ausdrucksstark und klassisch, gelegentlich fast klassizistisch. Egon Madsen durfte seine quecksilberhafte Quirligkeit zeigen. Der Höhepunkt aber blieb Crankos Primaballerina assoluta vorbehalten: Marcia Haydée. Ihr Auftritt unterschied sich drastisch von dem der übrigen drei, die jeweils die Szenen von Anfang an beherrschten. Im dritten Satz muss man lange warten, bis die Solistin auftritt, exakt mit dem Einsatz des langsam sich vortastenden Klaviers. Elegant wie eine Kerze stand sie von den Armen der Partner getragen in der Luft, selbst wenn sie sich kaum bewegte, war sie voller Ausdruckskraft. Mit den übrigen drei Tänzern hat Cranko deren Herkunft aus dem klassischen Ballett verdeutlicht, für Haydée hat er eine Tanzspezies sui generis kreiert.
Jeder der vier Tänzer, denen Cranko diese Hommage gewidmet hat, tanzte damals gewissermaßen die Rolle seiner selbst, für die Tänzer von heute aber ist es eine Gratwanderung, denn sie wissen natürlich um die Vorgänger und haben dennoch lediglich eine Rolle zu tanzen wie sonst auch. und allen gelingt sie weitgehend bravourös. Elisa Badenes entwickelt jene Eleganz, die Birgit Keils Präsenz auf der Bühne ausgezeichnet hat, und ahmt die große Vorgängerin doch nicht einfach nur nach. Auch Moacir de Oliveira bringt keinen epigonalen Madsen auf die Bühne, sondern tanzt perfekt mit eigener Verve, und Alicia Amatriain im dritten Satz gelingt genau die Ausdrucksstärke und -tiefe, die die Rolle verlangt; Adhonay Soares da Silva belässt es allerdings weitgehend bei der allerdings stupend getanzten virtuosen Brillanz, die Zwischentöne bleiben eher unterbelichtet, doch auch sie gehörten zur Tänzerpersönlichkeit eines Richard Cragun.
So hat Ballettdirektor Reid Anderson zwei durchaus unterschiedliche Ballette zu einem Abend zusammengespannt, die doch auf faszinierende Weise eine Einheit ergeben.