Archäologie ist häufig „Stückwerk“. Nicht immer hat der Forscher das Glück, ganze Statuen zur Verfügung zu haben, erst recht nicht Objekte in dem Lebenszusammenhang, in dem sie den Griechen oder Römern vertraut und geläufig waren und der zur möglichst detaillierten und anschaulichen Rekonstruktion der Lebensgewohnheiten nötig wäre. Das gilt auch für die so genannten Campana-Reliefs, so benannt, weil ein gewisser Giampietro Campana ihnen als einer der ersten seine Sammelleidenschaft und sein wissenschaftliches Interesse gewidmet hat. Sie finden sich in renommierten Häusern wie dem British Museum und dem Louvre – und im Archäologischen Institut der Universität Tübingen. Lange Zeit als irrelevant abgetan, gerieten sie erst vor einem halben Jahrhundert in den Fokus der Wissenschaft – und derzeit in eine Ausstellung im Tübinger Schloss.
Herakles kämpft gegen die Hydra von Lerna. Foto: Thomas Zachmann
Zwei heroische Taten stehen am Beginn, beide vollbracht von dem Helden der griechischen Mythologie schlechthin: Herakles, der hier einmal gegen die Hydra kämpft und ein zweites Mal einen wilden Stier bändigt – mit Muskelkraft, versteht sich. Derart ausführliche Bildszenen waren im antiken Rom lange Zeit unüblich, sieht man einmal von Wandmalereien ab. Beide Szenen sind Reliefbilder aus Terrakotta, entstanden vermutlich um die Zeitenwende, also im ersten vor- oder nachchristlichen Jahrhundert – und damit führt die Ausstellung ein in einen fundamentalen Geschmackswandel. Der lässt sich, wie eine Vitrine neben den Heraklesreliefs zeigt, im gesamten altrömischen Alltag ablesen. So findet sich Essgeschirr zunehmend mit üppigem Bildschmuck.
Damit ist die Ausstellung zugleich auch eine Einführung in den Kulturwandel, der sich in dieser Zeit vollzog: Die reiche Oberschicht orientierte sich an der griechischen Kultur, und sie entwickelte einen luxuriösen Lebensstil, der sich vermutlich auch dem Konkurrenzdenken der führenden Familien verdankte. Die Terrakottaplatten dienten zwar in erster Linie rein praktischen Zwecken, sie schützten Holz an den Fassaden und Dächern der Häuser gegen Regen; daher waren sie lange Zeit für die Forschung von untergeordnetem Interesse. Dass aber selbst solche profanen architektonischen Schutzmittel derart differenziert mit Bilddarstellungen geschmückt waren, weist auf die Bedeutung hin, die in dieser Zeit dem Bild als Ausdrucksmedium offenbar zugestanden wurde.
Foto: Thomas Zachmann
Freilich: so komplett, wie die Heraklesszenen sich hier dem Betrachter präsentieren, waren sie in Wirklichkeit nicht. Für die Campana-Reliefs gilt in noch viel stärkerem Maß als für andere Funde aus der römischen Antike, dass sie uns nahezu ausschließlich in stark fragmentierter Form vorliegen. Die Kuratoren der Ausstellung, die Archäologen Philipp Baas und Manuel Flecker, haben in ihrer Ausstellung eine ganze Wand mit der stark abstrahierten Zeichnung einer Hausfassade samt Dach ausgestattet. Sie zeigt mit schwarzen Linien auf weißem Grund die architektonischen Details, vor allem aber auch die Bilddarstellungen, die in Form von Terrakottaplatten die Wände geziert haben müssen. An einigen Stellen hängen in dieser riesigen Architekturzeichnung Terrakottateile, aber nur an sehr wenigen. Mehr ist von einer Hausfassade eben nicht überliefert. So ist diese Ausstellung zugleich auch eine Einführung in die Arbeit der Archäologen, die aus wenigen Details Zusammenhänge rekonstruieren müssen. So finden sich kleine Terrakottarelikte, die Körperteile von Gladiatoren zeigen, dazu einige wenige Details, die Rückschlüsse darauf geben, dass das ursprüngliche Bild wohl einen Gladiatorenkampf im Circus maximus zeigte.
Erleichtert wird eine solche Rekonstruktion durch die Tatsache, dass für die Anfertigung solcher Terrakottareliefs zur schützenden Fassadenabdeckung Betriebe entstanden, die gewissermaßen nach dem Baukastenprinzip immer wieder gleiche Bildteile verwendeten und daraus neue Bilder komponierten, was ein großes Marmorrelief deutlich macht, das als Gipsabguss in der Ausstellung hängt. Diese Betriebe setzten bekannte Bildelemente aus dem griechischen Kulturkreis zu neuen Darstellungen zusammen.
Foto: Thomas Zachmann
Und noch etwas zeigen gerade die Tübinger Campana-Reliefs. Die Antike stellen wir uns gerne weitgehend farblos vor. Die antiken Statuen aus Marmor sind weitgehend weiß überliefert, die Terrakottaplatten sind braun, aber nur, weil die Farbe sich längst aufgelöst hat. Die römische Antike war aber eine erstaunlich bunte Welt. Das zeigen Farbreste auf den Relikten in der Tübinger Sammlung. Wie bunt diese Lebenswelt in den Villen der Reichen war, macht die Ausstellung mit einer Rekonstruktion deutlich, die eigens hierfür angefertigt wurde: Leuchtendes Blau, grelles Rot – die alten Römer liebten Farben, Bilder und griechische Mythen.
So ist die Ausstellung weit mehr, als ihr bescheidener Titel angibt, der ja „nur“ die Campana-Reliefs des Archäologischen Instituts ankündigt. Umfassender kann eine Ausstellung derart komplexe Sachverhalte kaum mehr zusammenführen: alte Kultur, antiker Lebensalltag und die Arbeit der Forschung heute.
„Fragmentierte Bilder – Die Campana-Reliefs des Archäologischen Instituts Tübingen“, Schloss Hohentübingen bis 19.2.2017. Katalog 120 Seiten, 19.90 Euro.