Dass der Holländer die zentrale Figur dieser Oper ist, macht schon seine Präsenz deutlich: Kaum ist der Steuermann auf dem Schiff des seefahrenden Kaufmanns Daland eingenickt, tritt die Titelfigur zu ihrem großen Monolog auf und beherrscht dann für den Rest des 1. Aktes die Bühne. Senta, die in der von Wagner 1860 neu geschaffenen Fassung zur zentralen Figur wird, die den Holländer von seinem Fluch, ewig zur See fahren zu müssen, erlöst, tritt dagegen erst auf, wenn die Oper fast zur Hälfte vorüber ist. Nicht so in Roger Vontobels Inszenierung am Nationaltheater Mannheim.
Delphina Parenti (Traum-Senta),Michael Bronczkowski (Traum-Holländer) und Daniela Köhler (Senta) © Christian Kleiner
Hier ist sie gleich zweimal vertreten – einmal als reale Senta, gesungen von Daniela Köhler, ein zweites Mal als „Traum-Senta“, getanzt von Delphina Parenti. Und schon während der Ouvertüre erscheint sie in ihrem weißen Kleid schemenhaft in einem Video, ehe die Kamera ihr dicht ins Gesicht, auf das Auge bis hin zur Pupille rückt und schließlich das zeigt, was diese Figur kurz vor ihrem Freitod im Meer sieht: Wasser, in das sie eintaucht. Vontobel möchte auf diese Weise das Geschehen der ganzen Oper aus der Sicht Sentas präsentieren – als Traum, als Wahn, als Wunschvorstellung? Doch hätte Vontobel Senta dann als beobachtende Instanz schon viel früher auf die Bühne bringen müssen. So wird sie durch die Videoeinspielung lediglich als zentrale Figur in der Geschichte um den Holländer eingeführt – eine Figur, die allerdings, wenn sie dann tatsächlich auftritt, eine überwältigende Präsenz erhält. Das liegt nicht zuletzt an der Sängerin. Daniela Köhlers Sopran ist für diese Rolle eigentlich zu dramatisch: diese Senta ist kein Mädchen mehr, diese Senta weist schon in die Riege der Wagnerheldinnen à la Brünnhilde. Das wirkt sich in den lyrischen Passagen ihrer Ballade negativ aus, denn hier muss sie ihre Stimme regelrecht zügeln, doch die dramatischen Ausbrüche gewinnen bei ihr Brillanz und Durchschlagskraft mit im Lauf des Abends zunehmender Klangschönheit. Sie wird fast zur dominierenden Gestalt – und das ist bei diesem Holländer ein Kunststück, denn Michael Kupfer-Radecky ist ein Glücksfall als Holländer.
Michael Kupfer-Radecky (Der Holländer) © Christian Kleiner
Er versucht gar nicht erst, der Figur dämonische Züge zu verleihen, die er genau besehen auch in der Oper nicht hat. Sein Holländer ist ein fast depressiv Verzweifelter, der schon nicht mehr an seine Erlösung glaubt. Kupfer-Radecky verfügt über grandiose Tiefen und Höhen, vor allem kann er durch seine absolute Intonationssicherheit jeden Ton dieser schweren Partie genau artikulieren und jede Modulation und damit jeden Stimmungsumschwung prägnant stimmlich verkörpern.
Regisseur Vontobel verstärkt diese Präsenz noch, indem er seinem Sänger nicht zumutet, die eher statische, in sich gekehrte Rolle mit szenischem Leben zu erfüllen. Das übernimmt das zweite Double in dieser Inszenierung, denn auch der Holländer hat einen Tänzer als Traum-Pendant, das schon während des großen Monologs tänzerisch umsetzt, was der Holländer im Gesang zum Ausdruck bringt: die Qualen, die der zur ewigen Fahrt auf den Meeren Verdammte erleidet, das Entsetzen über die eigene „Schockgeburt“: Michael Bronczkowski wirft sich zu Boden, drückt mimisch und gestisch die innere Unruhe dieser Figur aus, das Rastlose.
Das hätte zur bloßen Verdoppelung des gesungenen Worts führen können, doch Vontobel setzt den Tanz gewissermaßen als Realisierung dessen ein, was in der Musik ausgedrückt wird, denn auch wenn Wagner in dieser Oper seine Leitmotivtechnik noch längst nicht entwickelt hatte, so „weiß“ die Musik doch stets mehr als die Figuren auf der Bühne: Wenn Daland, Sentas habgieriger Vater, dem Holländer seine Tochter buchstäblich verkauft, tritt zum Traum-Holländer eine Traum-Senta hinzu; wenn Senta im 2. Akt ihre Ballade vom geheimnisvollen Holländer singt, wird sie dazu von eben dieser Tänzerfigur inspiriert; wenn sich in ihrer Ballade die zunehmende innere Verbundenheit mit diesem Fremden ausdrückt, tanzen Traum-Holländer und -Senta bereits wie ein lang vertrautes Paar.
Damenchor, Marie-Belle Sandis (Mary, Sentas Amme), Daniela Köhler (Senta) und Jonathan Stoughton (Erik, ein Jäger) © Christian Kleiner
Dass Senta nachvollziehbar aus der Enge ihrer Welt fliehen möchte, macht Vontobel durch seine Charakterisierung ihres Umfelds deutlich. Wirkt Wagners Chor der Spinnerinnen noch eher als Ausdruck ausgelassener Freude an der Handarbeit, sind die jungen Damen bei Vontobel Arbeiterinnen in einer Textilfabrik, überwacht von einer Vorsteherin. Vontobel hat damit sehr genau textliche Details zum Thema gemacht, die man leicht überhört. Mary ist eben nicht nur „Sentas Amme“, wie sie in der Figurenliste definiert wird, sie wird mit „Frau Mary“ angesprochen, als Respektsperson also, und treibt die jungen Damen, vor allem aber die aufmüpfige Senta, zur Arbeit an – eine Arbeit, die nur ein Ziel hat, den Männern zu gefallen; auch das ist Wagners Text zu entnehmen, wenn Mary Senta prophezeit, sie werde mit ihrem Verhalten keinen abbekommen. Daher wird hier nicht nur Garn gesponnen, vielmehr schneidert sich bei Vontobel jede Frau ein Kleid, mit dem sie einen der im Hafen einkehrenden Seemänner umgarnen möchte.
Ob man in der Kleidung Anspielungen auf die Verfilmung von Margaret Atwoods Report der Magd erkennt, worauf Vontobel im Programmheft hinweist, und dass das Gewand seines Daland durch eine Filmrolle von Leonardo di Caprio inspiriert wurde, ist für den Zuschauer ohne Relevanz – die Charakterisierung dieser Welt als Männerdomäne und Frauengefängnis wird auch so deutlich.
Fabian Wendling hat sich für sein Bühnenbild auf Schiffstaue beschränkt, die mal das Skelett eines Schiffs bilden, mal ein Gefängnis, mal ein Spinnennetz, in dem die Figuren sich verfangen. So entsteht ein sich ständig wandelnder magischer Raum. Vor allem hat er damit raffiniert die Sphäre der Frauen – die Handarbeit – mit der der Männer – die Welt der See – verknüpft.
Ob Senta diesem Gefängnis entkommen kann, indem sie dem Holländer durch ihren Freitod folgt und ihn so von seinem Fluch befreien kann, lässt Vontobel offen und kann – ähnlich wie Bühnenbildner Fabian Wendling zwei Welten zur Einheit verbindet – die beiden Fassungen von Wagners Oper gleichzeitig auf die Bühne bringen, denn die Erlösung des Holländers durch Sentas Freitod ist ein Einfall, den Wagner erst 1860, zwanzig Jahre nach der frühen Erstfassung mit ätherischen Harfenarpeggien am Schluss realisierte. Dirigent Jordan de Souza lässt dieses Anhängsel weg und beendet die Oper mit dem ursprünglichen harten Orchesterakkord. Dazu erhebt sich nur eine der beiden Sentas, wie Wagner es später wollte, verklärend aus dem Meer. Bei Vontobel verfängt sich die Traum-Senta in der Takelage des Holländerschiffs, die reale Senta dagegen steigt vom Schiff herab in die Welt, der sie hatte entfliehen wollen.
Als Stream verfügbar bis 24.10.2022
https://operavision.eu/de/bibliothek/auffuehrungen/opern/flying-dutchman-nationaltheater-mannheim
super Kritik, vielen Dank.
Da muss man hin..
Schöne Grüße aus Berlin
Sibylle Wagenr