Es ist ein Klassiker der Filmgeschichte: John Hustons Moby Dick von 1956, nicht zuletzt vielleicht auch, weil Gregory Peck, Spezialist für sensible, integre Figuren, hier den dämonischen Kapitän Ahab spielt, der in grenzenlosem Hass den weißen Wal jagt, der ihm einst ein Bein abgerissen hat. Doch mit der Einschränkung auf diesen Handlungsstrang wird der Roman von Herman Melville, auf dem der Film basiert, drastisch verkleinert – und das Bild des Autors wiederum gleichermaßen, weil die meisten Leser von ihm nur diesen Titel kennen, den viele nicht einmal ganz gelesen haben. Der Amerikanist Arno Heller hat Melville in seiner ganzen Komplexität porträtiert und sein Werk als Wegbereiter der Moderne gedeutet.
Es sollte der Keim zu seiner Schriftstellerkarriere werden, obwohl der junge Herman Melville damals noch nichts davon ahnte. Nach dem Bankrott und frühen Tod seines Vaters und mehreren vergeblichen Versuchen, eine Anstellung zu bekommen, heuert er 1841 mit einundzwanzig Jahren auf einem Walfangschiff an. Um den für ihn unerträglichen Bedingungen auf dem Schiff zu entkommen, desertiert er mit einem anderen Matrosen, gerät auf einer Südseeinsel in die Gefangenschaft von Eingeborenen, flieht aus Angst vor einem möglichen Kannibalismus, wird wegen angeblicher Meuterei auf einem anderen Walfänger ins Gefängnis gesteckt, aus dem er fliehen kann, und landet drei Jahre nach der ersten Ausfahrt wieder wohlbehalten bei seiner Familie an.
Das ist mehr als Stoff für nur einen Roman, und Melville, der seine Erlebnisse zunächst nur im Kreis der Angehörigen und Freunde erzählt, verarbeitet sie denn auch gleich in drei Romanen, die zum Teil beachtlichen Erfolg haben. Aber er begnügte sich nicht damit, seine Abenteuer publikumswirksam zu Papier zu bringen. Arno Heller zeigt durch genaue Analyse, dass Melville von Anfang an stets mehrere Quellen in seine Bücher einfließen ließ. In seinem ersten Roman Typee (deutsch Taipi) schildert er seine Erlebnisse unter den dort Lebenden, beschreibt deren Lebensweise geradezu ethnologisch und prangert zugleich die katastrophalen Auswirkungen des Kolonialismus an. Nicht die so genannten Wilden, sondern die zivilisierten Weißen seien die eigentlichen Raubtiere. Hatte er hier noch eine weitgehend unberührte Welt porträtiert, zeigt er in Omoo (deutsch Omu) bereits die Kontamination durch die Weißen, vor allem den missionarischen Klerus. Mit dem rund tausend Seiten starken Roman Mardi (deutsch: Mardi und eine Reise dorthin) schließlich verlässt er die Bahnen der traditionellen Erzählung, mischt Abenteuerroman mit fantastischer Romanze und entwickelt einen geradezu mythologischen Kosmos einer aus sechs Inseln bestehenden Welt, die jeweils für einen Kontinent stehen.
Damit hatte er den Rahmen des traditionellen Romans gesprengt, allerdings auch die Geduld seiner Leser überstrapaziert. Sein Misserfolg führt zu Depressionen, zu Schreibhemmungen. Eine Rettung aus der Sackgasse bieten die in den USA – Hellers Buch ist neben der Melville-Biographie zugleich eine vorzügliche Kultur- und Sozialgeschichte Amerikas um die Mitte des 19. Jahrhunderts – aufkommenden literarischen Zeitschriften mit der Möglichkeit, längere Erzählungen oder Kurzromane zu veröffentlichen. Der Erfolg hielt sich zwar auch hier in Grenzen, zumal der finanzielle, denn solche Erzählungen brachten weniger Tantiemen ein als ganze Romane, dafür aber entwickelte Melville hier die Grundlage für einen Ruhm, den er zu Lebzeiten zwar nicht mehr genießen konnte, der ihn aber für das 20. Jahrhundert zu einer führenden literarischen Gestalt machte. Seine gleichnamige Erzählung über Bartleby, einen Schreiber, der sich in einer Anwaltspraxis radikal verweigert und ins existentielle Nichts abdriftet, hat bereits deutlich kafkaeske und surreale Züge. Seine Erzählung über eine Meuterei und einen Sklavenaufstand auf einem Schiff, Benito Cereno, ist bereits ein Vorbote einer Erzählweise des 20. Jahrhunderts, in der alle Informationen bei der Lektüre dekonstruiert werden, in der es keine festen Sinnbezüge mehr gibt, alles sich in Ahnungen und Spekulationen auflöst.
Mit seinem Meisterwerk Moby Dick schließlich gibt Melville den Weg vor, den im 20. Jahrhundert Romanciers wie Robert Musil einschlugen, dessen Mann ohne Eigenschaften verschiedenste Erzählebenen und reflektierende Essays nebeneinanderstellt. In Moby Dick ist das die Icherzählung eines Schiffsjungen, der sich bereits äußerst vage einführt: „Nennt mich Ishmael“, was die Frage aufwirft, ob das sein wirklicher Name ist. Die eigentliche Hauptfigur, Kapitän Ahab, taucht erstmals in Kapitel 28 auf, und seine Geschichte des Hasses wird von zahlreichen essayartigen Passagen unterbrochen, die den verschiedensten Phänomen des Meeres und seiner Bewohner gewidmet sind, vor allem dem Wal, der geradezu enzyklopädisch abgehandelt wird.
Milan Kundera hat einmal behauptet, der moderne Roman unserer Zeit sei ein Roman der essayistischen Reflexionen – Melville hat den Prototyp hierfür geschrieben. Und so wie er bereits für seine eher auf die Abenteuergeschichte abzielenden ersten Romane die unterschiedlichsten Texte als Inspirationsquelle verwendete und zum Teil durch unmittelbares Kopieren einfügte, so mischen sich in dem Roman um den weißen Wal biblische Anspielungen (auch Ahab ist ein Name aus der Bibel) und shakespearesche Tragödien. Ahab, so betont Heller, spricht seitenweise in Blankversen, als wäre er ein Hamlet oder besser noch der irr gewordene König Lear.
3000 Exemplare verkaufen sich von diesem Roman zu Melvilles Lebzeiten, und auch die danach folgenden Romane, die jeweils höchst unterschiedliche Stil- und Erzählexperimente sind, bleiben erfolglos. Melville zieht sich desillusioniert auf den Posten eines Zollinspektors zurück. Elf Jahre nur dauerte seine Existenz als Schriftsteller, in diesen Jahren schuf er acht Romane und achtzehn zum Teil lange Erzählungen, darunter Meisterwerke wie Bartleby, der Schreiber, Benito Cereno, Billy Budd und eben Moby Dick. Mit ihnen ließ er das Erzählen des 19. Jahrhunderts bereits hinter sich, obwohl sie um die Mitte dieses Jahrhunderts entstanden. In ihnen, so arbeitet Heller heraus, entwickelte Melville „eine für seine Zeit völlig neue offene Ästhetik der Unabgeschlossenheit und Fragmentarität“ und nahm „damit Elemente der Moderne und teilweise Postmoderne“ vorweg.
Arno Heller, Herman Melville. Lambert Schneider. 319 Seiten, 29.95 Euro