Er war einer der bedeutendsten Vertreter der Neuen Musik im 20. Jahrhundert: Igor Strawinsky. Dabei hat er sich – mehr noch als sein Vorgänger Tschaikowsky – mit der Kunst des Tanzes auseinandergesetzt. Zusammen mit dem legendären Sergej Diaghilew schuf er Ballettklassiker wie „Feuervogel“, „Petruschka“, „Sacre du Printemps“ und „Pulcinella“. Das Stuttgarter Ballett erkundet in einem neuen Programm, was Strawinsky den Choreographen von heute zu sagen hat: Sidi Larbi Cherkaoui und Demis Volpi steuern neue Kreationen bei, von Marco Goecke kommt sein 2009 in Leipzig uraufgeführtes Ballett „Le Chant du Rossignol“ hinzu.
Gesang der Nachtigall, Choreographie: Marco Goecke.Tänzer: Heather MacIsaac, Roland Havlica © Stuttgarter Ballett
Marco Goecke ist bekannt dafür, dass er die Bewegungen seiner Tänzer geradezu atomisiert. Diese winzigen Bewegungsfetzen lässt er dann mit oft aberwitziger Geschwindigkeit ablaufen. Das Ergebnis ist ein nervöses, fiebrig flatterndes Tanzgeschehen. Das macht er auch in seinem Strawinskyballett, und er hätte sich keine passendere Musik wählen können als den „Gesang der Nachtigall“. Musik und Bewegung sind hier in perfekter Harmonie.
Strawinskys Ballett basiert auf dem Märchen „Des Kaisers Nachtigall“ von Hans Christian Andersen. In diesem Märchen rettet eine Nachtigall den Kaiser von China vor dem drohenden Tod, obwohl er sie durch eine künstliche Nachtigall ersetzt hat. Musik und Bewegung sind in perfekter Harmonie. Goecke lässt die Tänzer auch nicht naturalistisch die Bewegung von Vögeln nachahmen. Goecke konzentriert sich ganz auf das Vogelhafte und lässt gelegentlich Assoziationen aufkommen an eine ganze Voliere voller mal ängstlicher, mal ausgelassen trippelnder und hüpfender Vogelwesen. Die Handlung des Märchens interessiert Goecke weniger.
Ganz anders Demis Volpi. Er erfindet zu Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ sogar eine Vorgeschichte: Ein Geiger ermuntert einige Schauspieler, nach Art der Commedia dell’arte ein Theaterstück auf einem Marktplatz aufzuführen – eben die Geschichte vom Soldaten, der seine Geige beim Teufel gegen ein Buch eintauscht, das Reichtum verspricht. Bei Volpi lässt sich der Teufel in einem Pas de deux vom Soldaten in die Kunst des Geigenspiels einweisen und usurpiert dabei nahezu unbemerkt die Geige – das ist ein choreographisches Meisterstück.
Die Geschichte vom Soldaten, Choreographie: Demis Volpi. Tänzerin: Alicia Amatriain © Stuttgarter Ballett
Alicia Amatriain gestaltet den Teufel faszinierend mit geschmeidigen, zugleich aber auch gefährlich schlangenhaft anmutenden Bewegungen. Derweil schiebt die Frau des Soldaten die Utensilien des Alltags hin und her, wird älter und älter und fällt tot um. Bei Strawinsky bleibt offen, ob es ein Happy End gibt. Volpis Stück ist ungleich schwärzer. Der Soldat stirbt, die Geige verbrennt und zu Schuberts Hymne an die holde Kunst raucht der Teufel genüsslich eine Zigarette. Ein solch zynisches Ende findet sich auf der Ballettbühne selten. Nur die einleitenden Szenen zur Vorbereitung des Stückes am Anfang sind tänzerisch wenig ergiebig. Auf sie hätte man gerne verzichtet.
Solche narrativen Elemente finden sich bei Sidi Larbi Cherkaoui nicht, obwohl er mit dem Feuervogel ein ganzes Märchen hätte erzählen können. Er baut ganz auf die Musik. Dabei bringt er kongenial das Sehnende, Fließende, das die Musik über weite Strecken prägt, dann aber auch das dramatische Geschehen auf die Bühne. Allerdings verliert er sich allzu oft ins rein Ästhetische. Er zeigt grandiose Bilder, die allerdings gefährlich nah an der Grenze zum Geschmäcklerischen sind.
Der Feuervogel, Choreographie: Sidi Larbi Cherkaoui © Stuttgarter Ballett
So zeigt sich, dass Strawinskys Ballette mit ihren Geschichten die Choreographen von heute weniger interessieren. Sie interessieren sich vor allem für einzelne Symbole – und die Musik, die auch 100 Jahre nach ihrer Entstehung immer noch Choreographen zu faszinierenden tänzerischen Einfällen inspirieren kann.