Um Theaterregisseur werden zu wollen, muss man nicht unbedingt Schauspieler gewesen ein, Ähnliches gilt für die Oper; Regisseure aus diesem aktiven Dienst sind sogar eher selten. Ganz anders beim Ballett: hier waren fast alle großen Choreographen in ihren jungen Jahren einmal Tänzer. Was sie da an Tradition aktiv praktizierten, ging nicht spurlos an ihrem Wirken als Choreographen vorüber. Ein neuer Abend am Stuttgarter Ballett verfolgt die Traditionslinien von Gestern und Heute in einem Balletttraum aus Blau und Weiß – Shades of Blue and White.
William Forsyth, Ensemble © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett
Ist das Ballett von heute, aus dem 21. Jahrhundert, oder reiht es sich ein in die große Tradition, die vor allem von Russland im späten 19. Jahrhundert geprägt wurden? Bei William Forsythes Blake Works I deutet zumal die Musik auf Ersteres, ein Ballett nach Songs des Briten James Blake. Und ein wenig von der Modernität der Musik scheint auch ihren Niederschlag gefunden zu haben in so manchen „lockeren“ Bewegungen: Da winkeln Tänzer gelegentlich die Hüfte ab, verschränken ihre Arme, scheinen sich in einer Pause Erholung in einer kurzen Minute zu gönnen, und doch ist das alles eingebunden in strenge Choreographie: moderner Lebensausdruck also in der formal gebundenen Sprache des Balletts.
Diese Sprache wiederum erinnert über weite Strecken an die große Tradition, die das Ballett jahrzehntelang geprägt hat: Spitzentanz, Hebungen, Sprünge. In der Tat hat Forsythe, nachdem er einige Jahre Pause vom Ballett gemacht hatte, mit diesem Stück 2016 eine Hommage an das große klassische Ballett geschaffen – und zugleich etwas ganz Neues auf die Bühne gebracht.
Wer den Ballettrevolutionär Forsythe erwartet, mag enttäuscht werden, und doch ist die Mischung aus Tradition und Revolution in diesem Stück faszinierend, ein Werk des über Sechzigjährigen, das Frische, Esprit, Jugendlichkeit atmet. Sogar einen Hauch von Handlung meint man zu erkennen, wenn Rocio Aleman und David Moore sich am Ende zaghaft zu einer Art verschämtem Pas de deux nähern. Doch das alles nur in Andeutungen, perfekt ausbalanciert zwischen Tradition und Moderne, eine Huldigung an das Ballett von einst und heute zugleich.
Natalia Makarova nach Marius Petipa, Ensemble © Stuttgarter Ballett
Wie sehr Forsythe sich damit vor der Tradition verneigt, zeigt das erste Stück des Abends, und es war ein guter Einfall, mit diesem Stück zu beginnen, einem Klassiker des traditionellen Balletts, dem Schattenakt aus der Bayadère von Marius Petipa, 1877 kreiert und von der Tänzerin und Choreographin Natalia Makarova rekonstruiert, in dem der Held im Opiumrausch sich seine verstorbene Geliebte gleich in zweidutzendfacher Vervielfältigung träumt und im Solo doch noch mit ihr eine kurze Vereinigung erleben darf. Dazu führt Petipa mustergültig die Hierarchie des klassischen Balletts vor, indem er erst vierundzwanzig Tänzerinnen mit immer gleichen Bewegungen die Bühne betreten und nach und nach füllen lässt, diese sodann durch drei Solotänzerinnen ergänzt, die in kurzen Szenen ihre Virtuosität unter Beweis stellen dürfen, bis das erste Solistenpaar die Bühne beherrschen darf. Freilich hätten die zwei Dutzend Traumbayadèren etwas mehr Gleichklang in ihren Bewegungen auf die Bühne bringen dürfen, als dies am Stuttgarter Premierenabend gelang; Petipa hat hier seine Faszination aus der Abfolge des Immergleichen gezogen, die an diesem Abend eben nicht immergleich war. Dafür lotete vor allem Elisa Badenes als Traumvision einer Tempeltänzerin jene Schwerelosigkeit und Virtuosität, Innigkeit und Präzision aus, die diese Rolle auszeichnen.
Hier konnte man im Vergleich bei Forsythe sehe, wie radikal neu dessen Verneigung vor dieser Tradition war. Neu ist auch, was Uwe Scholz 1991 zu Beethovens siebter Sinfonie kreierte, siebzehn Jahre vor Forsythe. Hochmusikalisch ließ er die Tänzer mit jeder Bewegung, jeder Drehung, jeder Hebung auf die Musik reagieren. „Apotheose des Tanzes“ hat Richard Wagner diese Sinfonie genannt, Scholz hat das in seiner Choreographie umgesetzt, und doch mischt sich in die Begeisterung, zumal wenn die schweren, oft in großen Gruppen ausgeführten Passagen so virtuos ausgeführt werden wie in Stuttgart, ein Hauch Wehmut. Denn Tanz mag zwar, wie George Balanchine demonstriert hat, in dessen Tradition des Neoklassizismus Scholz mit dieser Arbeit sicher steht, eine perfekte Synthese von Musik und Bewegung sein, doch diese Entsprechung heißt nicht, dass jede Note, jede Modulation zwischen Dur und Moll, jeder Rhythmus unmittelbar in tänzerische Bewegung und Lichteffekte umzusetzen wären. Hier geschah des Guten zuviel.
Vor allem zeigt dieser Abend eine Tendenz des Stuttgarter Balletts, die mit Blick auf die Zukunft nachdenklich stimmen sollte. Als Tamas Detrich vor fünf Jahren sein Amt als Ballettdirektor in Stuttgart antrat, eröffnete er seine Ära mit einem Abend unter dem Titel Shades of White mit dem Schattenakt aus Petipas Bayadère, mit einem Stück des großen John Cranko nach Mozart und einem neoklassizistischen Stück von George Balanchine – ein Signal, wie wichtig die Tradition für sein Haus sein sollte. Zwar hat er in zahlreichen Abenden mit neuen Choreographen jungen Künstlern – meist Tänzern aus der Stuttgarter Compagnie – ein Podium geboten, die zum Teil Großes auf die Bühne brachten, doch über das, was John Cranko, der Schöpfer des „Stuttgarter Ballettwunders“, vor über einem halben Jahrhundert kreierte, nicht hinauskamen. Der neue Abend ist ein weiteres Bekenntnis zur Tradition. Ein wenig Revolution wäre nicht unangebracht. Dafür könnte man sich übrigens auch bei Forsythe bedienen, dem jüngeren als dem von 2016.