Als Richard Strauss seine „Elektra“ schrieb, ging er nach eigenem Bekunden „an die äußersten Grenzen der Harmonik“. Verglichen mit der Kühnheit dieser Komposition erscheint manchem Musikliebhaber das, was er danach schrieb, als Rückschritt – eine gewagte Hypothese sicherlich. Im Fall von Gottfried Graf aber kann man gewiss von einer solchen Kehrtwende sprechen. In den 20er Jahren hatte der Maler zu einer kühnen Formensprache gefunden, während er in den 30er Jahren zu einer eher harmlosen Landschaftsmalerei zurückkehrte.
Wiederkunft 1, 1919
Wild schießen hell leuchtende Farbbahnen in die Höhe, als wären es Eruptionen eines Vulkans. Aus diesen prismenähnlichen Farbstreifen erheben sich schemenhaft menschliche Figuren. An solchen Arbeiten lässt sich unschwer die Faszination erkennen, die der Kubismus auf Graf hatte, als er sich 1913 in Frankreich aufhielt. Vor allem dürfte ihm aber angetan haben, was Robert Delauney kurz vor dem 1. Weltkrieg in Frankreich entwickelt hatte. Delauney strebte eine abstrakte Malerei ganz aus dem Geist der Farbe an. Das übte in Deutschland auf mehrere Künstler Einfluss aus. Paul Klee übersetzte Delauneys aufsatz „Über das Licht“, das auf den Farbbildern des französischen Malers eine große Rolle spielte, auch Franz Marcs Tierbildern lassen diesen Einfluss spüren. Doch Graf entwickelte auf seinen Bildern unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg einen ganz eigenen Malstil, der einer Botschaft diente. Es ging ihm um die Gestaltung eines neuen Menschenbildes. Ätherisch schweben die Figuren über die Bildfläche. Sie sind nicht selten umgeben von einem Strahlenkranz, der seinen Ursprung mal im Wasser, mal im Gestein, vor allem aber im Licht hat. „Tanzendes Mädchen“ nannte er eines solcher Bilder, ein anderes „Schreitendes Liebespaar“. Am deutlichsten wird diese Idee einer Neugeburt des Menschen an seinem „Sonnenjüngling“. Die Ausstellung zeigt mehrere Vorstufen des Gemäldes, von der Zeichnung über das Aquarell bis zur Graphik.
Aber nicht nur Delauney hinterließ seine Spuren in Grafs Entwicklung, auch der Kubismus sollte sich prägend auf ihn auswirken. Und auch hier entwickelte Graf eine ganz eigene Malerei.
Lesende. Frau im Sessel, 1925
Während die Kubisten nicht selten mit eckigen Formen arbeiteten – Dreiecken zumal -,baute Graf seine Bilder in den 20er Jahren oftmals aus harmonischen, gerundeten Formen auf. Das sind hochmusikalische Bilder mit einem faszinierenden Rhythmus. Dabei lösen sich die Bildgegenstände immer stärker auf. Nicht selten schichtete er verschiedene Bildebenen hintereinander – manchmal hat man den Eindruck, er habe ein Maleratelier porträtiert, in dem sich an der Wand hintereinander gestellt mehrere kubistische Bildern stapeln -, und erzielte eine Tiefe, die den Betrachter in diese Bildwelten geradezu sogartig hineinzieht. Das sind einzigartige Gemälde, auf denen er sich schrittweise der reinen Abstraktion näherte.
Doch dann scheint es, als sei er vor der Radikalität seiner Entwicklung zurückgescheut. Ab der Mitte der 20er Jahre kehrte er vermehrt zur menschlichen Figur zurück, malte Szenen aus der Stuttgarter Stadtlandschaft, die neusachlich nahezu realistisch Brücken und Häuser wiedergeben. In den Bildern aus dieser Zeit begegnet man in der Ausstellung einem Künstler, der offenbar unermüdlich, geradezu verzweifelt, auf der Suche nach einer neuen künstlerischen Zukunft ist. Von Picassos klassizistischer Phase ließ er sich zu monumentalen Gemälden inspirieren, auf denen er Gestalten nach Art der antiken Skulpturen in Gruppen zusammenfügt. An die Modernität seiner „kubistischen“ Arbeiten reichen diese Bilder nicht mehr heran, erst recht nicht die harmlosen Landschaften, die er in den 30er Jahren in seiner Heimatstadt Mengen malte. Vielleicht stand hinter dieser Kehrtwende der Versuch, in einer die Moderne ablehnenden Atmosphäre unter den Nazis weiter bestehen zu können, vielleicht aber war es auch der Schock und die Angst vor der eigenen Courage, den so konsequent beschrittenen Weg weiter zu verfolgen. So bleibt das Bild eines faszinierenden Erneuerers der Malerei zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese lange Phase seines Schaffens in allen ihren unterschiedlichen Facetten zu dokumentieren, ist die große Leistung dieser Ausstellung, die aber ehrlicherweise auch die traditionalistische Spätphase nicht unterschlägt, denn auch in diesen Bildern zeigt sich eine Perfektion und Raffinesse in der Pinselführung, die zeigt, dass Graf ein begnadeter Maler war, welchem Motiv und welchem Stil er sich auch widmete.
„Gottfried Graf. 1881-1938“. Museum Biberach bis 13.3.2016
Die Ausstellung ist derzeit leicht verändert zu sehen in der Städtischen Galerie Böblingen bis 10.7.2016, Katalog 23 Euro
Ein Film zu dieser Ausstellung von Horst Simschek und mir findet sich in YouTube unter
https://www.youtube.com/watch?v=ex3vO-sjCzc