Die Zahlen können einen schwindlig machen. Buchauflagen in Millionenhöhe weltweit sind keine Seltenheit; die Zahl der jährlichen Buchneuerscheinungen ist nicht übersehbar – das Buch ist ein Massenartikel par excellence. Doch war es ursprünglich ein Unikat, teuer, selten – und wohl auch daher mit besonderer Sorgfalt hergestellt. Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt, wie aus der singulären mittelalterlichen Handschrift Schritt für Schritt das moderne Buch entstand, wie wir es kennen.
Niederlande, Ende 15. Jahrhundert, Blatt aus einem Stundenbuch mit der „Beweinung Christi“, Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung
Was für ein malerischer Prunk: Blüten, Früchte und Blätter zieren den Rand der Seite, und sie sind fast zum Greifen realistisch gemalt, nicht mehr, wie in früheren Zeiten, in Form von Ranken, sondern als „Individuen“. Die Beweinungsszene ist angesiedelt in einer Landschaft, die deutlich perspektivische Gestaltungsmittel aufweist mit einem Jerusalem im Hintergrund. Es ist Buchmalerei, wie sie am Beginn der Neuzeit noch gepflegt wurde, als es den Buchdruck schon längst gab. Und diese neue Technik entwickelte nur langsam eine eigene Ästhetik. Die Ausstellung aus den Beständen der immensen Graphischen Sammlung der Staatsgalerie ist eine mustergültige Einführung in die Mediengeschichte Ende des Mittelalters. Obwohl eigentlich unnötig und sehr aufwändig wurden auch in frühen Druckerzeugnissen die Initialen, die in der Buchmalerei so üppig verziert ausgeführt wurden, im Druckstock nachgeahmt, wenn auch nicht mehr mit so viel illustrativer Fantasie wie etwa auf einer Seite einer deutschen Bibel um 1475. Im Text werden die Geschlechter von Adam bis Isaak aufgezählt, und also ist der Buchstabe A nicht nur verziert, sondern besteht aus einer regelrechten Bildersequenz: Adam im Paradies, Noah in der Arche, und oben Abraham, der Isaak opfern will.
Auch der Hang zur Bebilderung der Texte wird beibehalten, und zwar nicht nur ganzseitig nach dem Modell: eine Seite Text, eine Seite Illustration. Textteile und Bilder finden sich auf einer Seite. Diese Teile mussten mit verschiedenen Druckstöcken gedruckt werden. So findet sich auf der Donationsseite einer Buchausgabe der Visionen der hl. Birgitta oben eine Himmelsszene mit Christus und Maria, der Heilige Geist schwebt als Taube gen Erde. Unten übergibt die hl. Birgitta das Buch mit ihren Visionen dem Bischof Alonso. Die Visionen, so wird dadurch insinuiert, sind vom Himmel inspiriert. Der Text rahmt das obere Bild mit zwei Textsäulen ein. Bild und Text sind miteinander verknüpft, und die formale Aufteilung der Seite hat Aussagekraft.
Hier ist alles gedruckt, doch finden sich auch zahlreiche Zwischenformen, in denen in eine gedruckte Textseite handgemalte Illustrationen eingefügt wurden, und umgekehrt, gedruckte Bilder in einen handschriftlichen Text.
Die Ausstellung ermöglicht einen Blick in die Entstehungsgeschichte eines neuen Mediums, des gedruckten Buches, und die vollzog sich mäandernd schleichend.
Meister der Apokalypsenrose, Die Flucht nach Ägypten, in: Simon Vostre, Stundenbuch für Autun, 1506, Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung
Zugleich ist die Ausstellung ein Exempel für die Entwicklung neuer Druckformen. So finden sich vorzügliche Beispiele für den Metallschnitt, bei dem nicht, wie bei einer Radierung, in die Metallplatte eingeritzt wird, was später als Linie auf dem Blatt erscheinen soll, sondern nach Art des Hochdrucks alle Teile der Platte, die nicht drucken sollen, abgeschliffen oder sogar ausgeschnitten werden – wie beim Holzschnitt, der allerdings auch erst allmählich seine heute bekannte Gestalt annahm. Anfangs ließen die Künstler die Maserung der Hölzer weitgehend unberücksichtigt, das Holz diente als neutraler Druckstock. Daher mussten die Bilder koloriert werden, da die Zeichnungen sich oftmals auf Konturen beschränkten. Erst nach und nach wurden die Zeichnungen detaillierter ausgeführt, auf Farbe konnte verzichtet werden.
Schließlich ist die Ausstellung eine Fundgrube für Freunde christlicher Ikonographie. So finden sich bei der Kreuzigung Christi nicht, wie später üblich, eine Vielzahl von Figuren, das Personal beschränkt sich im Spätmittelalter auf Maria und Johannes neben dem Kreuz.
Meister des Dutuitschen Ölbergs (zugeschrieben), „Christus in der Vorhölle“, um 1450-1470, Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung
Die Vorhölle, aus der Christus in einem Bild die Seelen der Gerechten befreit, ist als riesiges aufgerissenes Fischmaul dargestellt, ein verbreiteter Bildtopos.
Und die Fantasie der Illustratoren kannte keine Grenzen. Da taucht neben Pontius Pilatus auch dessen Frau auf gemäß Matthäus 27,19. Auf einem Blatt mit dem hl. Hieronymus finden sich alle Elemente der Hieronymussage: Der Kardinalshut – er war päpstlicher Sekretär -, die Wüste, in die er sich als Eremit zurückzog, der Löwe, dem er einen Dorn aus der Pranke gezogen haben soll. Spätmittelalterliche Buchillustrationen sind ausgesprochen narrativ.
Und da mit dem Buchdruck ganz neue Kundenschichten für das Medium erschlossen werden konnten, beschränkten sich die Inhalte auch nicht auf die Religion. Fabeln von Aesop wurden alsbald beliebt, es entstanden Exlibris und Spielkarten, und eine Neujahrskarte verbindet profane Nutzung des Druckerzeugnisses mit christlichem Inhalt: Es zeigt das Christuskind mit einem deutlich sichtbaren Penis, denn am 1. Januar wird die Beschneidung Christi gefeiert.
All diese Details finden sich in dem auf der Homepage der Staatsgalerie enthaltenen Digitalen Ausstellungsführer – detailliert, anschaulich. Die Texttafeln in der Ausstellung neben den Exponaten dagegen geben lediglich die dürren Informationen zu Titel, Inhalt und Technik. Damit aber erschließen sich diese Kunstwerke nicht. So muss man die eigentlich neben den Originalen sinnvollen Information entweder zuhause am Computer nachholen oder in der Ausstellung umständlich auf dem Smartphone suchen.
„Gemalt, gedruckt, gebraucht. Bild und Buch im Spätmittelalter“, Staatsgalerie Stuttgart bis 27.5.2018