Von der Linie in den Raum: Katharina Hinsbergs Farbfelder

Eine Linie auf einem Blatt Papier ist die Verbindung zwischen zwei Punkten. Katharina Hinsberg war mit dieser Definition offenbar nicht ganz zufrieden; vor zwanzig Jahren begann die Künstlerin mit ihrer eigenen Erkundung dieses Phänomens, zog auf einem Blatt eine Linie mit dem Lineal, legte ein zweites Blatt darüber, zeichnete die Linie freihändig nach usw., bis Hunderte von Blättern übereinander lagen und die Endpunkte auf dem Papierblock eine Zackenlinie bildeten und so deutlich machten, wie unzuverlässig die frei zeichnende Hand ist. Wer ihre neueste Arbeit im Kunstmuseum Ravensburg betrachtet, wird sich freilich die Frage stellen: Wo ist hier die Linie geblieben?

           

Mit Hunderten von farbigen Blättern hat Katharina Hinsberg den großen Ausstellungssaal im 1. Stock ausgekleidet. „Feldern“ nennt sie das: Der Saal war bei der Eröffnung in ein leicht rötlich angehauchtes Blau getönt, gewissermaßen tapeziert. Das Ganze wirkte wie der Raum eines modernen Designers. Doch schon kurz nach Eröffnung wechselten sich blaue und orangefarbene Flächen ab, inzwischen ist Grau hinzugekommen, denn die Farbfelder, mit denen die Wände verkleidet sind, bestehen aus mehreren Schichten dünnen Seidenpapiers, jeweils in einer anderen Farbe, und in regelmäßigen Abständen werden einige dieser oberen Blätter abgerissen, die Farbstruktur verändert sich.

Damit wird aus der ursprünglich wie Design anmutenden Arbeit ein Kunstwerk, das gleich in mehreren Kunsttraditionen steht: Da wäre zunächst einmal das Work in Progress, denn während der Ausstellungsdauer wird sich der Raum ständig verändern, und man darf auch sehen, das hier „Arbeit“ am Werk war: An den Nägeln, die die Papierschichten an die Wände heften, sind die Relikte vom abgerissenen vorigen Blatt noch zu sehen, sollen es auch sein.

Zugleich ist es ein Werk in der Tradition der geometrisch-konstruktivistischen Kunst, die Blätter sind von den Ausmaßen genau auf die Raummaße hin berechnet und die Farben sind genau austariert.

So ist das Grau, das inzwischen gelegentlich zu sehen ist, in Wirklichkeit ein weißes Seidenpapier, durch das darunter liegende schwarze Blätter hindurchscheinen. Das ist Kunst aus Liebe zur Geometrie.

Zudem ist diese Rauminstallation kinetische Kunst, denn die Seidenpapiere sind nur oben an der Wand befestigt. Geht ein Lufthauch durch den Raum – etwa durch schnelle Bewegungen der Ausstellungsbesucher, und vor allem Kinder haben diesen Effekt sehr schnell herausgefunden, dann zeigen sich für kurze Zeit die darunter liegenden Farbschichten, es geht ein Flirren durch den Raum, die Wände scheinen lebendig zu werden.

Außerdem ist das, was während der Ausstellungswochen mit den Farbwechseln geschieht, grundsätzlich der Bildhauerei nicht unähnlich, bei der ja auch von einem Steinblock etwas abgetragen wird, bis die endgültige Form erreicht ist.

Es können einem in diesem Raum noch viele Stilrichtungen einfallen: die Farbfeldmalerei eines Mark Rothko etwa, der Suprematismus eines Kasimir Malewitsch, die Rasterkunst eines Sol Lewitt, der mit seinen Gitterstrukturen Räume scheinbar in Bewegung versetzt, oder der Neoplastizismus eines Piet Mondrian, der seine Bilder aus dünnen farbigen Strichen aufbaute, zwischen denen sich farbige Flächen bilden. Und hier findet sich auch das wieder, was Katharina Hinsberg von Beginn an faszinierte: die Linie, denn die Farbflächen sind nicht nahtlos nebeneinander auf die Wände geheftet, zwischen den Flächen befinden sich dünne Abstände, Linien eben.

Die Linie blieb bei ihr ja auch nicht lange lediglich ein auf Papier gezogener Strich. Katharina Hinsberg hat dünne Streifen aus Papier ausgeschnitten und als Relief zu einem in den Raum vorstoßenden Bild gestaltet, sie hat ausgeschnittene Papierschlangen in den Raum gehängt, hat mit solchen Linien ganze Labyrinthe geschaffen. Die Linie im 21. Jahrhundert ist eben beileibe nicht mehr nur die Verbindung zwischen zwei Punkten.

Design und Kunst, Geometrie und Kreativität, statischer Konstruktivismus und bewegte Kunst … – die Gedanken finden keine Grenzen. Freilich: Man sollte sie sich auch machen bzw. durch eine Führung zu ihnen anregen lassen, denn sonst bleibt es beim Eindruck des ersten Blicks, einer durch bunte Flächen aufgelockerten Wandgestaltung. Das ist zwar reizvoll, wäre aber für einen Museumsbesuch zu wenig, und damit steht Katharina Hinsberg auch noch in der Tradition der Konzeptkunst, nur dass das Konzept bei ihr im Unterschied zu so manchen ihrer Kollegen in dieser Kunstrichtung ein Augenschmaus ist.

Katharina Hinsberg“. Kunstmuseum Ravensburg bis 3.7.2016. Nächste Farbwechsel: 31.5., 7. 6., 21.6.2016

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