Linie, Farbe und Fläche, so meinte Theo van Doesburg 1930, sei das Konkreteste, das man sich optisch vorstellen könne, und es reiche auch aus: Die Konkrete Kunst war begründet, eine Kunst, deren Ausdrucksmittel dem Betrachter zwar bekannt sind, aber alles andere als vom Alltag her vertraut, denn diese Kunst verzichtet auf jegliche Abbildung einer gegenständlichen Realität. Auf den ersten Blick ist man geneigt, den langjährigen Stuttgarter Akademiedirektor Paul Uwe Dreyer ganz dieser Kunstrichtung zuzuordnen, doch dieser Eindruck trügt, wie eine Ausstellung im Kunstmuseum Stuttgart zeigt.
Der Gruß an Mr. Chippendale, um 1966. Foto: Martin Frischauf © VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Linien und farbige Flächen prägen auch seine Bilder, und seine Vorliebe galt dem Quadrat, dem Rechteck und dem Dreieck, also geometrischen Grundelementen. Und doch wird man beim zweiten Blick mit dieser Zuordnung zur konkreten Kunst unsicher, denn diese Kunst beschränkt sich ganz auf die geometrischen Elemente, bei Dreyer aber hat man immer wieder den Eindruck, einen Blick in die uns vertraute Welt zu werfen. Das deuten auch die Titel an: Vorhof oder Wände und Variation, oder gar Der Gruß an Mr. Chippendale, und in der Tat erinnern die geschwungenen Linien auf diesem Bild an die berühmten Sessel- und Stuhllehnen des Meisterschreiners aus dem 18. Jahrhundert. Dann wieder meint man, Elemente einer Hausfassade zu erkennen, und tatsächlich haben die Fachwerkhäuser seiner niedersächsischen Heimat Dreyer inspiriert. Daher wohl seine Vorliebe für Quadrate oder Dreieck und die Neigung, die Flächen mit Linien zu betonen, nur eben nicht dunklen, wie sie bei Fachwerkhäusern zu finden sind, sondern meist hellen, dünnen. „Die Wirklichkeit und ihre Überführung in ihre geometrische Gesetzlichkeit“ könnte man das überschreiben, und das ist eben nicht konkret, sondern die eigene von Dreyer entwickelte Bildsprache.
Noch etwas unterscheidet seine Bilder von der strengen konkret-konstruktivistischen Kunst: Sie wirken auf den ersten Blick mit ihren klaren Flächen statisch. Dreyers Bilder aber sind genau genommen geradezu hochdramatisch bewegt. Gerade Ende der 60er Jahre gewichtete Dreyer seine Bilder um, ganze Bildteile scheinen aus der Ordnung ausbrechen zu wollen, sich in eine Bildhälfte zu schieben, wodurch diese Bilder eine ungewohnte Dynamik erhalten. Fast meint man, sie seien in Bewegung geraten.
In den 70er Jahren konnte Dreyer auf die gegenständliche Assoziation fast ganz verzichten. Er hatte sein Formenrepertoire gefunden und weiterentwickelt. Bildtitel deuten jetzt innere Bildakzente an wie etwa Klammer. Aber auch in diesen Jahren fehlen Hinweise auf Bauwerke nicht, wie ein Titel Architekturlinien verrät.
Phasenschnitt II, 1990. Foto: Lothar Bertrams © VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Trotz aller Konzentration auf das rein Geometrische bleibt die Dynamik in seinen Bildern erhalten. Dreiecke und Linien scheinen da wie von einem Wirbelwind über die Fläche verteilt, sie scheinen gar zu tanzen. Vor allem werden die Bilder immer eigenwilliger in ihrer Komposition. Schwerpunkte verschieben sich in eine Ecke, Dreiecke werden spitzer, konzentrieren sich in einer Bildhälfte, während die andere ganz ruhig bleibt.
Wesentlichen Anteil an diesen Bewegungen innerhalb der Bildkompositonen hat die Linie. Schon Der Gruß an Mr. Chippendale hatte gezeigt, dass Dreyer eine ganz eigene Beziehung zwischen Linie und Fläche entwickelte. Während die konkreten Künstler beide oft wie Gegensätze nebeneinander existieren ließen wie etwa Piet Mondrian, gehen Linie und Fläche bei Dreyer eine enge Verbindung ein. Da kann eine Linie eine Fläche hervorheben, ja definieren, indem sie sie wie eine Kontur umgibt, sie kann aber auch eine Fläche unterteilen, deren flächige Konsistenz also unterbrechen, stören. Sie kann den Beginn einer Fläche andeuten, um sie dann ganz sich selbst zu überlassen. So sind Fläche und Linie bei Dreyer oft nicht voneinander zu trennen, sie bedingen einander.
Shamsa 2, 2005.© VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Wie wichtig die Linie in seinem Schaffen ist und vor allem immer stärker wurde, zeigen die jüngsten Bilder der Ausstellung von 2005. Noch ordentlicher als zuvor hat hier Dreyer die quadratische Bildfläche in vier Quadranten unterteilt und diese Struktur insofern betont, als er in jedes dieser vier Felder ein ganz eigenständiges Bild malte. Die vier Bildteile hätten für sich genommen nichts miteinander zu tun, wären da nicht die weißen Linien, die sich wie ein Erzählfaden durch alle vier Bildteile ziehen und sie zur Einheit verbinden.
Mit seinen Linien brachte Dreyer auch zunehmend Tiefe in seine Bilder. Schon bei frühen Gemälden hat man immer wieder den Eindruck, Flächen wichen nach hinten zurück oder schöben sich nach vorn. Mal meint man sogar, zwei Flügeltüren öffneten sich. Später schuf er Bildtiefe, indem er Linien über- und untereinander legte, Flächen und Linien nahtlos miteinander verband. So entstanden untrennbare Geflechte aus Linien und Flächen.
Mehr noch. Vor allem bei den Bildern vom Ende des 20. Jahrhunderts fragt man sich, ob diese Linien tatsächlich als Linie aufgetragen wurden, oder ob sie nicht von einer tiefer liegenden Farbfläche übriggeblieben sind, auf die eine etwas kleinere gemalt wurde. Linie wäre dann nicht das Gegenteil von Fläche, sie würde aus der Fläche geboren.
Das alles wirkt zwar rein formal, ist aber ein Abenteuer für das Auge, denn je länger man sich auch nur mit einem einzigen dieser Bilder beschäftigt, umso mehr ist man gezwungen, seine vorgefassten Meinungen zu überdenken – Vorstellungen von Fläche und Linie, Ordnung und Unordnung, Bewegung und Statik, mithin also von Grundgegebenheiten unser aller Leben.
„Paul Uwe Dreyer“, Kunstmuseum Stuttgart bis 30.1.2022. Das Werkverzeichnis, auf das die Ausstellung gründet: „Paul Uwe Dreyer. Werkverzeichnis der Gemälde, Zeichnungen und Druckgraphiken“, Dr. Cantz’sche Verlagsgesellschaft, 384 Seiten, 68 Euro