Dramen auch lange nach ihrer Entstehung aktuelle Bezüge zu entlocken, ist vornehme Aufgabe der Regisseure, der diese seit einiger Zeit freilich oft recht subjektiv nachkommen bis hin zur Unkenntlichkeit der Stücke. Dass ein Drama aber Jahrzehnte nach seiner Entstehung wieder aktuell ist, dürfte die Ausnahme sein. Ödön von Horváths Italienische Nacht zählt dazu, zeigt es doch anhand eines von Sozialisten veranstalteten gemütlichen Abends die aufziehende Gefahr von Rechts. Das Stück wurde 1931 uraufgeführt, jetzt hat es Calixto Bieito für das Schauspiel Stuttgart inszeniert.
„Stille“ lautet die Bühnenanweisung zu Beginn des Stücks, und so ist es denn auf der Stuttgarter Bühne auch totenstill. Bieito hält sich an Horváths Anweisung, und als Theatermann weiß er, welche Ausdruckskraft in einer solchen Stille liegen kann, zumal wenn die Bühne auch noch menschenleer ist und lediglich von einigen Bierbänken in Reih und Glied bevölkert ist. Dann kommen die Figuren herein und heben die Sitzbänke von den Tischen mit einer Präzision ab, die nicht aus einer Gemütlichkeit des Abends herrührt, sondern von fast militärischem Drill, jenem Drill, den man ja eigentlich den Rechten nachsagt, den Faschisten, die im selben Lokal ihre Deutsche Nacht feiern wollen, mit Nachtübungen und Märschen von der Blaskapelle.
Und auch die ersten Sätze dieser Mitglieder des republikanischen Schutzverbandes, der die Faschisten aufhalten will, klingen eher nach Befehl denn nach Beruhigung. Solange er den Vorsitz über den Schutzverband habe, verkündet Stadtrat Ammetsberger, so lange könne die Republik ruhig schlafen, und so wie Elmar Roloff es in seiner präzisen Charakterstudie artikuliert, klingt es fast wie eine Drohung: Man möge nur ja alles so lassen, wie es ist.
Dass dem nicht so ist, dass die Faschisten die republikanische Nacht sprengen wollen und den Stadtrat am Ende demütigen, ist angesichts solcher Selbstsicherheit und politischer Blindheit schon hier zu ahnen, und Bieito lässt denn auch während der folgenden zwei Stunden die Fassade der Sicherheit Schritt für Schritt fallen, wozu ihm abermals das von ihm mitgestaltete Bühnenbild mit den Biertischen und -bänken dient, die alsbald ihre preußische Ordnung verlieren und zuweilen wie Waffen von den untereinander gar nicht so einigen Sozialisten gehandhabt werden. Horváth zeigt eine politische Gruppierung, von der die Zukunft des Staates abhängen soll, in Auflösung und Zerstrittenheit, und Bieitos Schauspieler charakterisieren die Parteimitglieder mit grandioser Eindringlichkeit und Genauigkeit. Michael Stiller mimt den Intellektuellen, der den übrigen Genossen geistig überlegen ist, aber keine klare Position beziehen möchte. Demgegenüber nimmt David Müller als Marx-Exeget Martin allzu forsch den Gegenpart zu Roloffs betulichem, wenngleich machtpolitisch denkenden Stadtrat, und Peer Oscar Musinowskis Musiker Karl kann sich nicht entscheiden zwischen Parteiräson und Schürzenjägertum.
In einer solchen Männerwelt haben Frauen nichts zu sagen, wie der Stadtrat seiner Frau gegenüber deutlich macht, aber ausgerechnet sie erweisen sich am Ende als Figuren mit Rückgrat. Christiane Roßbach und Paula Skorupa gestalten grandios Charaktere zwischen Unterwerfung und eigenständiger moralischer Standfestigkeit.
Bieito verzichtet auf alles, was das heutige Regietheater ausmacht. Er nimmt sich das Stück nicht als Verfügungsmasse für seine Deutung und Einfälle, er dient dem Stück vielmehr durch subtile Inszenierung. Ausgerechnet er, der in der Vergangenheit durch drastische sexuelle Szenen und gelegentlich allzu heftiges Blutvergießen von sich reden gemacht hat, lässt Horváths Stück von innen heraus lebendig werden. Wenn Elmar Roloff (nicht wie bei Horváth eine Frau) Carl Loewes Ballade von Heinrich dem Vogler deklamiert, der durch „deutschen Reiches Will“ König wird, dann wird daraus nicht ein reines Kabinettstück von Roloffs Komödiantentum, obwohl es natürlich auch das ist, sondern eine passgenaue Demonstration für die joviale Selbstherrlichkeit dieser Figur.
Am Ende, wenn die braune Gefahr für dieses Mal vorüber ist und der Stadtrat wieder Oberwasser gewinnt, beruhigt er abermals seine Genossen, dass die Republik ruhig schlafen könne. Das Weiter-So unserer heutigen immer noch Volksparteien sein wollenden großen Koalitionäre mit ihrem Versuch, die rechten Wahlerfolge durch Totschweigen relativieren zu wollen, sind da nicht fern. „Gute Nacht“ meint zuletzt der Marxist Martin. Eine Säule kippt um: Die Zukunft hat schon begonnen.
Das ist ein Theater großer Dramen- und subtiler Schauspielkunst, wie man es heute kaum noch erlebt, das den Zuschauer in seiner Mündigkeit ernst nimmt, weil es ihn zur eigenen Positionierung aufruft. Wie man sieht, funktioniert es, wenn man es wie das Stuttgarter Ensemble unter Bieito beherrscht. Man muss es eben nur (wieder) zulassen.