Es dauerte lange, bis Wilhelm Laage endlich zu seiner Kunst fand. Der Vater betreute einen Friedhof, die Mutter arbeitete in einer Bleicherei, wo der Sohn gleichfalls in jungen Jahren tätig war; so kam Laage erst mit zweiundzwanzig auf die Gewerbeschule und durch die Förderung des Kunsthistorikers Alfred Lichtwark mit fünfundzwanzig an die Kunstakademie, wo er Meisterschüler bei dem Maler Leopold von Kalckreuth wurde. Dass er, Jahrgang 1868, alsbald beim Holzschnitt als bevorzugtem Medium landete, war für die Zeit ungewöhnlich, wurde der Holzschnitt doch erst Ende des 19. Jahrhunderts allmählich als Kunstform entdeckt. Laage wurde ein Meister darin, wie jetzt eine Ausstellung im Kunstmuseum Reutlingen wieder einmal zeigt.
Der Schädel (Neues Leben; Tulpen und Schädel), 1901. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Das Bild, mit dem die Ausstellung eröffnet wird, dürfte auf den ersten Blick gar nicht hierher gehören, denn es ist ein Selbstporträt des Künstlers von 1898, die Ausstellung widmet sich aber der Natur und der Landschaft in Laages Werk. Und doch ist dieses Bild ein perfektes Entree zu dieser Ausstellung; Laage war da dreißig und hatte gerade erst seine späte Kunstausbildung beendet. Da würde man das übliche Selbstporträt des Künstlers mit Pinsel und Palette erwarten, doch Laage porträtierte sich mit einer Blume in der Hand, einer Tulpe – dem Symbol der Vergänglichkeit, wohl, weil die Tulpe so schnell Blütenblätter verliert. Zudem steht er – Reminiszenz an seine Herkunft – auf einem Friedhof.
Das Bild des Dreißigjährigen zeigt bereits, was seine Kunst die folgenden drei Jahrzehnte – Laage starb 1930 – prägen sollte: die intensive Auseinandersetzung mit der Natur, vor allem aber dem Wesen, das er in ihr entdeckte. Laage bildete Natur nicht einfach ab, fast immer liegt hinter der Oberfläche des Kreatürlichen eine tiefere Bedeutung. Die Tulpe beispielsweise, nicht unbedingt eine Lieblingsblume der Maler, taucht bei ihm mehrfach auf, und stets schwingt ein Hauch von Vergänglichkeit mit. So treiben aus einem Totenschädel zwei Tulpenblüten hervor: Natur und Vergänglichkeit bilden hier eine Einheit. Aber die Tulpe als Frühblüher im vegetativen Jahreszyklus ist zugleich ein Symbol des Wachsens, des Werdens, auch das ist in diesem Holzschnitt angelegt.
Wenn Laage Rosen gestaltete – und er galt vielen gar als „Maler der Rosen“ –, dann immer wieder mit einigen am Boden liegenden Blütenblättern.
Und noch eines findet sich in dem kleinen Bild mit dem Schädel: Laages Begabung, sich auf das jeweils Wesentliche zu konzentrieren und ganz aus den künstlerischen Mitteln heraus zu gestalten. Als er 1918 auf einem Ölgemälde Hyazinthen verewigte, gelang ihm durch leicht verwischte Farben der perfekte Eindruck der üppigen Blütentraube dieser Pflanze – ein wahrer Blüh- und auf der Leinwand Farbenrausch. Ein Jahr davor porträtierte er dieselben Blühpflanzen auf einem Holzschnitt. Da gestaltete er die Blütentraube als das, was sie eigentlich ist: ein Turm aus lauter kleinen Blütenblättern. Hier zeigt sich im Vergleich auch, wie genau Laage die verschiedenen Kunsttechniken in ihrem Wesen erfasste: die Malerei für das eher Großflächige, der Holzschnitt für das Gestalten aus filigranen Linien.
Mehr noch: Dieser Holzschnitt zeigt auch, dass Laage sich nicht nur für die Natur interessierte, die sich seinem Auge im Freien zeigte. Er porträtierte auch die in seiner Zeit aufkommende Begeisterung in Bürgerhäusern für die Zimmerpflanze. So finden sich Bilder mit Kakteen, wie sie gern in Wohnzimmern gepflegt wurden: Schlumbergera, volkstümlich: Weihnachtskakteen.
Kameraden, 1923. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Sein Hauptinteresse aber galt der Natur im Freien, der er sich besonders nahe fühlte. Viellicht entdeckte er gerade deshalb in Naturformen oft Menschliches. So meint man immer wieder, in Stein- oder Felsbrocken menschliche Köpfe zu erkennen. Er selbst leistete einer solchen Betrachtung Vorschub, indem er Holzschnitte dem altgriechischen Gott Pan widmete, dessen Antlitz sich vage aus einem Felsen herausbildet. Und in drei hintereinander stehenden Bäumen entdeckt er geradezu mitmenschliche Partnerschaft, wenn er die drei Pflanzen Kameraden nennt.
Laage ging bei seinen besten Arbeiten stets über den rein optischen Eindruck hinaus, ihn interessierte der Ausdruck von Natur und Landschaft. Wenn er – in diesem Fall mit Öl auf Leinwand – ein Herbstbild auf der Alb schuf, dann war es weniger ein Porträt der Alblandschaft, die er gut kannte. Wesentlich ist, wie er das zwar noch grün Vegetative der Jahreszeit erfasste, zugleich aber auch das Raue des Winds, das nahende Ende der Wachstumszeit.
Septemberabend, 1924. Foto: U. Schäfer-Zerbst
Eine ähnliche Kombination von üppiger vegetativer Farbigkeit und Abschiedsstimmung prägt seinen Septemberabend, wobei er sich bei der Gestaltung der fast glühenden Sonne kurz vor ihrem Untergang von van Goghs nervösem Pinselstrich hatte beeinflussen lassen, ohne seinen Kollegen zu imitieren. Ein Mondaufgang hat bei ihm etwas geradezu Gespenstisches, und die plötzlich durch Wolken durchbrechende Sonne etwas Gleißendes, das in den Augen fast schmerzt, obwohl Laage es nur durch die geradezu vehemente Schnitzarbeit in den Holzstock hervorbrachte. Laage entdeckte früh, wie wichtig beim Holzschnitt das Weiß des Papiers ist. Sein „Blühender Baum“ besteht fast nur aus der weißen Fläche, die ja eigentlich lediglich der Grund ist, auf dem ein Holzschnitt gedruckt wird.
Die dunklen, wilden Rosen, die der Ausstellungstitel verheißt, finden sich zwar abgesehen von einem Holzschnitt nicht, sie hätten wohl auch Laages Naturell widersprochen. Er konnte Kunst auch aus einem schlichten Zaun aus Holzlatten gestalten und zugleich in diesem Ausschnitt aus der Außenwelt ein Memento Mori kreieren. Dafür zeigt die Ausstellung, deren Untertitel – „Pflanzen und Landschaften in der Kunst Wilhelm Laages“ – etwas biedermeierlich wirkt, wie wenig letztlich Motive in der bildenden Kunst bedeuten. Entscheidend ist, was man künstlerisch daraus macht. Laages Schaffen in diesem Motivbereich ist ein Beleg dafür.
„Dunkle wilde Rosen. Pflanzen und Landschaften in der Kunst Wilhelm Laages (1868-1930)“, Kunstmuseum Reutlingen bis 4.2. 2024