Ein Sprachkunstwerk ist eine Herausforderung für die Fantasie. In der erzählenden Literatur muss sich der Leser mit seiner Vorstellungskraft ausmalen, wie die Figuren aussehen, sich bewegen, dafür kann ihm das Innenleben der Figuren unmittelbar nahegebracht werden. In der dramatischen Literatur ist Aussehen und Aktion optisch vorgegeben, dafür muss der Besucher das Innenleben anhand der Worte und Aktionen deuten. Genau darauf setzte Tina Lanik in ihrer Inszenierung von Nis-Momme Stockmanns neuem Theaterstück Das Universum des Schönen und kam dem Wesen dieses Stücks damit vielleicht besonders nahe, das der Autor als Hommage an das Konversationsstück bezeichnet hat.
Es geschieht wenig in diesem Stück, dafür wird viel geredet, und zu Beginn hat man den Eindruck, als sei nicht einmal das nötig, denn die beiden Brüder Falk und Matze sind mit ihren Partnerinnen Adriana und Maja samt den beiden Kindern von Falk und Adriana auf gemeinsamem Japanurlaub, und alle wirken, wenn das Licht angeht, wie eine glückliche Runde.
Doch schon die ersten Sätze machen Gräben deutlich – zwischenmenschliche Brüche, Unterschiede von Temperamenten, auch wenn sich alles zu Beginn noch im scheinbar harmlosen Bereich bewegt. Falk, der Philosophieprofessor, moniert, dass Maja auf ihr Handy starrt, während sie mit ihm ein Gespräch führt. Dass sie sich in einem Gespräch befänden, gibt Maja spitz zurück, sei ihr nicht bewusst, sie redeten allenfalls miteinander, ab wann daraus denn ein Gespräch werde. Mag man hier Falk noch im Recht wähnen, entlarvt er sich wenige Sätze später als Mensch, der jovial den Kontakt sucht, doch an seinem Gegenüber so wenig Interesse hat, dass er sich nicht einmal gemerkt hat, wann und wie er mit Maja zum ersten Mal zusammengetroffen ist.
Marco Massafra, Nina Siewert. Foto: Björn Klein
Von da an werden die Risse immer breiter, nicht nur die zwischen dem Professor und der Bäckereifachverkäuferin, auch die zwischen Falk und seinem Bruder, der sich eher ziellos durchs Leben treiben lässt, und schließlich auch zwischen Falk und seiner Frau.
Stockmanns Stück ist auf dieser Ebene eine nicht selten sarkastische Enthüllungskomödie. Alle Figuren zeigen von Minute zu Minute immer deutlicher ihr wahres Ich. Falk ist an der Oberfläche freundlicher Zeitgenosse, in Wirklichkeit aber Kontroll- und Manipulationsfreak, was Marco Massafra zwischen glatter Höflichkeit und beißender Ironie verkörpert. Matze ist das Gegenstück hierzu: ein Mensch, der es allen recht machen will und gerade damit Unfrieden sät. Martin Bruchmann gelingt diese Gratwanderung mit linkischen Gebärden und leiser Stimme. Adriana (Katharina Hauter) scheint die liebende Ehefrau, die dazu freilich nur durch Unterwerfung unter den dominanten Ehemann geworden ist. Und Nina Siewerts Maja schwankt zwischen dem Selbstbewusstsein einer jungen Frau, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht, und der Unsicherheit der zum Professor Aufschauenden. Soweit enthüllen die Dialoge Charaktere.
Stockmanns Stück ist aber neben dieser privaten Seite hochpolitisch. Es führt soziale Positionen vor, wirft die Frage nach dem Geld auf, das die Welt regiert (bzw. in diesem Fall die Urlaubsreise aller aus Falks Tasche finanziert). Es stellt in Frage, inwieweit ein Mensch andere dominieren, manipulieren, gar unterwerfen darf, selbst wenn er meint, nur ihr Gutes im Sinn zu haben.
Und Stockmann führt in diesen Dialogen vor, wie Konversation zum kaum verhüllten Streit, ja Krieg wird. Sprache ist hier Entlarvungsmedium ebenso wie Sprengkraft, anstatt zu Aufklärung und besserem Verständnis zu führen.
Im zentralen Teil stehen Exkurse über japanische Ästhetik und Philosophie. Das scheint auf den ersten Blick der privaten Vorliebe Stockmanns für die ostasiatische Welt zu entspringen, führt aber ins Zentrum dieses Stücks, denn es stellt westliche Lebensphilosophie, die rational planend vorgeht, der östlichen gegenüber, die eher im Jetzt die Erfüllung sucht, im Augenblick, im Schönen des Seins. Zwar sind diese Exkurse zu lang geraten, führen aber auf einer tieferen Ebene zu einer weiteren Enthüllung über die Figuren, denn ausgerechnet Falk, der Spezialist in japanischer Ästhetik, vermag in seinem Leben mit dem dozierten Ideal nichts anzufangen, während der aus seiner Sicht unfähige Bruder und dessen intellektuell unterlegene Freundin Maja ihm auf geradezu natürliche Weise nahekommen.
Stockmann plädiert nicht für die eine oder andere Lebensart, er doziert nicht, auch wenn er thesenhaft die Positionen andeutet, Stockmann wirft Fragen auf, die der Zuschauer im Anschluss für sich diskutieren kann und sollte.
Tina Lanik verzichtet in ihrer Inszenierung nahezu völlig auf alles Theatralische, denn das ist bereits in den Dialogen enthalten. So hat sie auch kein Bühnenbild entworfen, sondern nur einen „Raum“, in dem sie die unterschiedlichen Temperamente und Charaktere wie in einer Laborsituation aufeinandertreffen lässt. Rechts und links zwei Stuhlreihen, dazwischen leerer Raum, der sich mit Worten auffüllt und in dem alle Figuren immer anwesend sind, auch wenn sie gerade nicht sprechen. Der Gefahr eines eher privaten, realistischen Salonstücks, die bei diesem Stück durchaus vorhanden ist, steuert sie durch leichte Verfremdung entgegen. Stockmann hat diese Absicht in seinem Text angedeutet, denn er lässt einige Szenenanweisungen von den beiden Kindern sprechen – in Tempo und Intonation punktgenau: Daniel Fleischmann und Marielle Layher. Tina Lanik weitet das auf alle Regieanweisungen aus. So entlädt sich bei ihr die Spannung zwischen den Brüdern nicht in Handgreiflichkeiten und Falk gibt Maja keine Ohrfeige, wie es Stockmann in Regieanweisungen vorschreibt. Beide Aktionen werden hier nur verbal angedeutet – und das reicht, ja es hat mehr Wirkung als eine ausgeführte Ohrfeige, denn auch in Sachen Aktion muss das Theater nicht alles zeigen. Die Fantasie des Zuschauers erreicht gelegentlich mehr.