Die Keimzelle zu einer neuen Choreographie kann alles sein: eine Zeile in der Zeitung, eine kleine Begebenheit auf der Straße, ein kurzes Musikstück, vielleicht nur ein Klang. Doch welche Funktion haben solche auslösenden Elemente für das vollendete Stück? Sind sie nur Reminiszenz für den Choreographen, oder sind sind sie von zentraler Bedeutung für das Verständnis beim Zuschauer? Drei neue Choreographien am Stuttgarter Ballett entpuppen sich als höchst unterschiedliche Fallstudien zu diesem Thema: Creations I-III.
Elisa Badenes © Stuttgarter Ballett
Manchmal kann es von Vorteil sein, wenn der Choreograph allzu konkrete Assoziationen, die er selbst zu seinem neuen Stück hat, eher für sich behält,. Calma apparente nennt Fabio Adorisio sein neuestes Stück, also Scheinbare Ruhe, man könnte auch an trügerische Ruhe denken. Das passt zu weiten Strecken des Stücks sehr gut, denn am Anfang scheint alles reglos. Aus einem riesigen Glockenrock aus grauem dickem Papier steigt eine Tänzerin langsam hervor wie Phönix aus der Asche, und unter einem über eine Stange gehängten gefältelten grauen Vorhang kriechen weitere Tänzer auf die Vorderbühne. Der Vorhang hebt sich, und was dann beginnt, ist ein faszinierender Tanz um Begegnungen, um Anziehung und Abstoßung. Das mündet gelegentlich in aggressive Kämpfe, aber auch in Übereinstimmung und Einmütigkeit. Adorisio schuf eine Vielzahl an Gesten und Schritten, die letztlich alle um die Frage nach einem Miteinander oder auch Ohneeinander kreisen. Da wollen immer wieder Tänzerinnen stürmisch vorwärts und werden von den Partnern mit der Hand an ihrer Stirn gehindert, Gesten, die widersprüchlich zu deuten sind – entweder als Versuche, die Emanzipationsversuche der Frauen zu verhindern, oder aber als fürsorgliche Mahnungen, einen allzu forschen Bewegungsdrang einzudämmen. Das alles erhält seinen Ursprung ganz aus der Musik, die mal stimmungsvoll besinnlich, mal hektisch martialisch ist. Der Tanz, den Adorisio dazu erfunden hat, illustriert die Musik nicht, vielmehr hat man den Eindruck, der Tanz erschaffe die Musik in Form von Bewegungnoch einmal neu. Enger kann die symbiotische Beziehung zwischen beiden Ausdrucksformen kaum mehr gelingen.
Doch Adorisio führt im Programmheft die inhaltlichen Assoziationen noch weit über den Titel hinaus. Eine Anregung sei das italienische Sprichwort: „Stendere un velo pietoso“ gewesen, was so viel heißt wie: einen Schleier des Mitleids über etwas breiten, etwas Unangenehmes, Verhüllenswertes. Thomas Mika hat dafür ein handlungstragendes Bühnenbild geschaffen. Zu Beginn hängt ein grauer gefältelter Vorhang über einer Stange wie eine Grenzmauer oder auch wie ein Schleier, der den Durchblick verwehrt. Doch über weite Strecken ist dieser Vorhang von der Bühne verschwunden, also ohne Relevanz, und erst gegen Ende kracht er wie ein großes Gewicht auf die Bühne herunter.
Als weitere Assoziationen nennt Adorisio Themen wie Umweltzerstörung, bedrohten Lebensraum. Doch im eigentlichen Tanz findet das keine Entsprechung, es erschließt sich dem Betrachter nicht unbedingt.
Sehr viel besser miteinander verbunden sind Thema und Tanz beim Lamento von Andreas Heise. Seine Anregung war die Odyssee, genauer Monteverdis Oper Il ritorno d’Ulisse. Da wäre für ein Lamento eigentlich kein Platz, schließlich ist Odysseus nach langer Irrfahrt endlich bei seiner Gattin Penelope angelangt. Doch Heise verzichtet im Unterschied zu Monteverdi darauf, einzelne Phasen der Irrfahrt im Tanz nachzuerzählen, er kümmert sich um die Frage, was in den beiden Eheleuten vor sich gehen mag, die jahrzehntelang voneinander getrennt sind.
Paula Rezende, Henrik Erikson © Stuttgarter Ballett
Am Anfang zeigt er sie noch glücklich vereint vor der großen Trennung, in hellrotem Gewand jugendlich unbeschwert, glücklich. Dann lässt er schlaglichtähnlich anklingen, was während der Abwesenheit der Geliebten geschieht: Odysseus auf dem Schiff, angedeutet durch eine Tänzerin auf den Schultern des Seefahrers, als suche sie nach Land, unterdessen die wartende Ehefrau Penelope, die gleichwohl nicht untätig ist, muss sie sich doch der zahlreichen Bewerber erwehren.
Beide werden, insofern hält sich Heise sehr genau an die literarische Vorlage, von Göttin Athene geleitet, mal behutsam als Anregerin, mal deutlich aktiver als Führerin. Dazwischen immer wieder die rotgewandeten Protagonisten als Paar: In der Mitte des Stücks farblich deutlich dunkler: das erträumte Wiedersehen, am Ende, in fast schon violettem Umhang: das ersehnte Wiedersehen in reifem Alter.
Wer die Odyssee kennt, wird in so manchen gestischen Anspielungen einzelne Episoden erkennen können, etwa beim Zuhalten der Ohren die bei den Sirenen, nötig aber sind sie nicht. Da er sich weitgehend auf die Beziehung der beiden Eheleute konzentriert, bleibt er allerdings auch gelegentlich zu sehr in reiner Beziehungsgestik hängen bis hin zum Arm-in-Arm-Gehen am Ende. Dennoch ist es eine gut aus dem Thema heraus entwickelte Choreographie.
Auf ein derart konkretes Thema verzichtet dagegen Roman Novitzky ganz. Er nennt sein Stück abstrakt Impuls – und hat damit dennoch genau den Inhalt angegeben, denn seine Arbeit hinterfragt den Tanz und die Musik ganz generell. So fängt seine Choreographie denn auch ohne Tänzer an, dafür aber mit einem anderen „Bewegungskünstler“, dem Perkussionisten Marc Strobel. Er beginnt, mit den Handflächen auf einer großen Rahmentrommel umherzustreichen, der feine Klang wird elektronisch verstärkt, es kommen die Fingernägel hinzu, später klopft er auf das Instrument und nimmt schließlich auch die Sticks zur Hand. Mit dieser sich im Dunkel schattenhaft abzeichnenden Musikerfigur ist man schon mitten im Tanz. Die eigentliche Choreographie beginnt dann mit einer einzelnen Frau, die Schritt für Schritt auf einer schrägen Lichtbahn ihren Weg über die Bühne beginnt.
Was dann folgt, ist ähnlich wie bei Adorisio eine Mischung aus Einzel– und Gruppenaktionen, in denen es auch um die verschiedenen Beziehungsarten wie Zuneigung und Abneigung, Miteinander und Ohneeinander geht. Aber vor allem geht es darum, wie Bewegung entsteht, sich entwickelt, zu Neuem wird. Der „Vortänzer“ ist gewissermaßen der Perkussionist. Die eigentlichen Tänzer scheinen geradezu auf seine „Befehle“ bzw. Anregungen zu warten, setzen sie vorsichtig in Bewegung um, die sich aber sogleich verselbständigen und zu neuen Ufern aufbrechen. Umgekehrt scheinen diese neu entwickelten Bewegungen auf die Musik zurückzuwirken.
Vittoria Girelli, Marc Strobel © Stuttgarter Ballett
Das ist ein Geben und Nehmen. In der Mitte des Stücks verlässt der Musiker sogar sein Instrument und zeigt lediglich mit den beiden Sticks, ohne einen Ton zu erzeugen, den Tänzern, was zu machen sei. Da entspinnt sich sogar ein tänzerischer Dialog zwischen Musiker und einer Tänzerin.
Hier wird auf spielerische und sinnlich erfahrbare Weise Grundsätzliches untersucht: Wie entsteht fast aus dem Nichts sinnhaftes Geschehen und führt zu neuen Welten. Am Ende kehrt sich das Verhältnis Musik-Tanz um. Jetzt schweigt die Musik, der Tanz aber geht weiter, d.h. die Tänzerin, nunmehr wieder allein, schreitet auf den Rand der Bühne zu, blickt sich um: War da was? Ja, ein Meisterwerk, das auf den ersten Blick ohne konkreten Inhalt auskam und doch voller Inhalt war.