Es kommt gar nicht so selten vor, da merkt man einer Inszenierung an, wie schwer sich der Regisseur mit seiner Aufgabe getan hat. Das gilt vor allem, wenn, was seit Jahren geradezu epidemieartig an deutschen Theatern geschieht, Romane auf die Bühne kommen. Je weiter sich eine solche Dramatisierung vom Original entfernt, umso erfolgreicher ist dieses Unterfangen häufig, denn dann dient der Roman vor allem als Lieferant von Handlungsmaterial für eigenständige Theaterszenen. Doch je näher eine Dramatisierung dem Roman bleibt, umso mehr leidet sie daran, dass, was Theaterleute offenbar nicht realisieren, ein Roman ein Erzählkunstwerk ist, in dem sich Szenerie und Handlung verbal vermittelt vor dem geistigen Auge des Lesers realisieren, das Theater aber ein Schau-Spiel ist. Zum 90. Geburtstag von Martin Walser hat das Schauspiel Stuttgart dessen Erstlingsroman Ehen in Philippsburg dramatisieren lassen, und dem Anlass entsprechend hielt man sich ganz an die Vorlage.
Es hätte ein fulminanter Theaterabend werden können. Das Bühnenbild (Katja Hass) ist schlicht und vielleicht deswegen umso wirkungsvoller: eine Art Arena, verhängt von weißen flatternden Vorhängen, die sich ständig dreht und mal den Blick in ein betucht-bürgerliches Wohnzimmer freigibt, mal Partysalon ist, mal Büro und immer wieder Tanzsaal der 50er Jahre, denn in dieser Nachkriegszeit spielt Walsers Roman und auch die von Regisseur Stephan Kimmig (mit Jan Hein) besorgte Dramatisierung. Mit einer Wochenschau, die auf den flatternden weißen Stoff der noch verhängten Bühnenarena projiziert wird, werden wir in das Jahr 1957 entführt, die Kostüme sind vage in dieser Zeit angesiedelt, und wer Spielfilme aus dem gehobenen Gesellschaftsmilieu der 50er Jahre etwa mit Ruth Leuwerik kennt, wird den leicht euphorischen Ton wiedererkennen, in dem sich die Figuren des folgenden Stücks vorstellen: die Fabrikantenfamilie Volkmann, der Gynäkologe Dr. Benrath, Cecile, seine Geliebte, die auch noch die Augen und Begierden so mancher anderer Herren dieser Großstadtszenerie auf sich zieht, der Rechtsanwalt Dr. Alwin, der es aus kleinen Verhältnissen in die High Society geschafft hat, und der junge Journalist Hans Beumann (Matti Krause), der es am Ende ebenfalls geschafft haben wird. In einer der eindringlichsten Szenen versucht er, es diesem Vorbild an Aufsteigertum nachzumachen, und ahmt dessen Tanzschritte, mit denen Alwin gern die Räume durchmisst, aufs Genaueste nach.
Ansonsten aber hat dieser Beumann – auch das ein herrvorragender Einfall, würde er nicht so exzessiv eingesetzt – auf einem Laufband durch die ihm noch fremde Welt zu laufen, ständig in Bewegung und doch kaum vom Fleck kommend. Regisseur Kimmig findet häufig zu derart sprechenden Szenen, etwa wenn Benraths Frau Birga schon längst vor ihrem Selbstmord immer mehr an Substanz zu verlieren scheint, immer mehr nur noch der Hauch eines lebenden Wesens zu sein scheint, grandios dargestellt von Manja Kuhl. Auch dass diese Gesellschaft nahezu ständig nur eines im Sinn hat, Sex, Aufstieg, Macht und Herrschaft, zeigt sich in nahezu jeder Szene, nur dass Fabrikant Volkmann, von Michael Stiller fulminant mit leisen Tönen dargestellt, bei einer jener Sexszenen mitspielen muss, geht an der von Walser brillant gezeichneten Figur vorbei, denn Volkmann hat nur eines im Sinn: seine Fabrik und den guten Ruf nach außen.
Schon lange wurde unter der Intendanz Petras nicht mehr so subtil, so differenziert agiert und gesprochen wie in dieser Inszenierung. Und doch scheitert sie – vermutlich am Grundübel: Dass sie eben die Dramatisierung eines Romans ist, in dem jedes Kapitel ganz aus der Perspektive einer Figur lebt; eine solche Perspektive aber gibt es auf der Theaterbühne nicht. Kimmig hat versucht, diesem Manko in seiner Dramatisierung des Romans zu entgehen, indem er das, was Walser in der 3. Person erzählend formuliert, in die 1. Person transponiert, doch gerade damit zerstört er die wunderbare ironische Distanz, die Walsers Roman in jeder Zeile atmet. „Herr Dr. Alwin hupte zweimal, dreimal, obwohl er wusste, dass Ilse ihn ohnedies herfahren hörte…“ heißt es bei Walser, „Ich hupe zwei-, drei Mal, obwohl ich weiß, dass Ilse mich ohnedies herfahren hört…“ heißt es bei Kimmig – seine Inszenierung besteht aus minutenlangen Monologen und macht aus der Entlarvung durch den Walserschen Erzähler eine Selbstdarstellung. Kimmig wollte offenbar dicht am großen Original bleiben, übernahm auch Szenen und Figuren, die in einer Bühnenversion verzichtbar, wenn nicht gar überflüssig sind (verschwindend kurz die Vermieterin Frau Färber, elend lang die Klagen der Sängerin Alice über die Qualen bei Filmaufnahmen), und lässt sie überlang ausspielen. Das führt dazu, dass wichtige Figuren wie der erfolglose Schriftsteller Klaff – erfolglos, weil er sich nicht wie Beumann anbiedert – nur eben mal am Rande vorkommen. Dramatisierung und dramaturgisches Timing machen so aus einem grandiosen Roman einen doch über weite Strecken dürftigen Dramentext, und dagegen kann auch die Regie für die Bühne nur bedingt ankommen.