*Sie scheint eindeutig und exakt: die Uhrzeit. Nach ihr bestimmt sich der Arbeitsalltag (früher mit der Stechuhr), nach ihr richten sich Verkehrsströme (Fahrpläne). Sie ist jedoch alles andere als ein Naturgesetz. Die Einteilung des Tages in 24 Stunden à sechzig Minuten galt nicht immer. In der Französischen Revolution versuchte man, einen Zehnstundentag à hundert Minuten einzuführen. Vor allem ist die Uhrzeit ein Korsett, das unser aller Tun regelt, Kein Wunder, dass die Zeit, in der dies nicht gilt, zur schönsten des Jahres zählt – der Urlaub, die Auszeit von der Zeit. Ihr ist jetzt eine Ausstellung im Kunstmuseum Ravensburg gewidmet.
Sie wollten frei von allen Konventionen und normativen Einschränkungen sein, die Künstler, die sich unter dem Namen Brücke zusammenfanden, und das sowohl im Leben wie in ihrer Kunst, und so zogen sich Erich Heckel, Karl Schmidt-Rottluff, Ernst Ludwig Kirchner, Max Pechstein und Otto Mueller mit ihren Freundinnen an die Moritzburger Seen zurück und warfen dort jeden Ballast von sich, vor allem den der Kleidung, nahmen eine Auszeit von bürgerlichen Konventionen.
In den 60er und 70er Jahren sah eine solche Auszeit ungleich harmloser aus, wie Fotografien von Barbara Klemm zeigen. Da lagern Bürger in gesitteter Kleidung beim Picknick am Rheinufer oder blicken besinnlich in die Berglandschaft.
Und auch die Menschen auf Grace Weavers Gemälden in poppigen Farben wirken zwar entspannt, aber keineswegs hemmungslos, im Gegenteil, selbst in der Free Time, der Freizeit, hängen sie noch am Smartphone und damit am Draht der Gesellschaft. Ganz anders die Brückekünstler: Nahmen sie sich – wieder zurück in Berlin – eine Auszeit, dann landeten sie nicht selten im Bordell, bei Kupplerinnen oder im Drogenrausch.
Dabei könnte Entspannung doch so leicht sein, scheint Cosima von Bonin anzudeuten. Sie lässt einen Stoffhasen einfach schlaff daliegen, Inbegriff der Faulheit. Sloth – Faultier steht auf seinen Füßen geschrieben.
Ob das für jeden das Ideal ist, sei dahingestellt, immerhin stellen einige Künstler die Frage nach dem Wert der Arbeit, und Mladen Stilinović hat gar ein Manifest zum Lob der Faulheit verfasst. Und Faulheit kann ja auch kreativ sein. So zeigt er sich auf Fotos bei der Arbeit, und das heißt in diesem Fall beim Schlaf. Insofern müssten Arbeitgeber eigentlich dankbar sein, wenn ihre Mitarbeiter bei der Arbeit sich gelegentlich dem angeblich gesündesten Schlaf hingeben, dem Büroschlaf, wie einige Angestellten in einem Großraumbüro, die das Künstlerduo FORT fotografiert hat.
Doch wie wichtig ist Arbeit, abgesehen davon, dass sie dem Lebensunterhalt dient? 1937 notierte der russische Schriftsteller Daniil Kharms an einem 9. Januar in einer psychiatrischen Anstalt den Satz: „Today I wrote nothing. Doesn’t matter“. Natalie Czech hat mit diesen Wörtern gespielt und noch pointierter deutlich gemacht, dass Arbeit nicht unbedingt entscheidend für die Identität ist. Ob es nun heißt: „I wrote nothing, doesn´t matter“ oder „I wrote, doesn’t matter“ bleibt sich gleich. Am Ende steht doch nur eines fest, das eigene Ich, ein schlichter Buchstabe: „I“.
Zugegeben, feste Uhrzeiten erleichtern das Zusammenleben, sind aber auch strenge Korsettierungen, und in ihrer Normativität kaum einzusehen.
Sophia und Franziska Hoffmann haben achtzehn Uhren in Reih und Glied angeordnet: Die Uhren sehen alle gleich aus und dienten früher einmal der Taktierung des Arbeitsalltags in einem VEB-Kombinat in der ehemaligen DDR. Diese Uhren aber ticken durchweg unterschiedlich, zeigen nicht nur unterschiedliche Zeiten an, sondern gehen mal schneller, mal langsamer – ein grandioser Verweis auf die Willkürlichkeit solcher Taktierungen.
Sich dem zu entziehen, kann ein Segen sein, vor allem, da man sich dann ganz auf sich selbst besinnen, ganz im Augenblick leben kann, wie eine Abteilung dieser vielfältigen und anregenden Ausstellung andeutet. Marina Abramović baute offenbar ganz auf die segensreichen Ströme von Mineralien. Sie hat Sodalithe für eine Eigenerfahrung herstellen lassen – Edelsteine, denen man heilsame Wirkungen zuschreibt. Man kann sich mit der Stirn an diese Steine lehnen und prüfen, ob man Entsprechendes empfindet. Dasselbe gilt für Stühle auf Quarzsteinen.
Sehr viel herkömmlicher ist Christian Jankowski vorgegangen. Er hat sich in einem Wellnesshotel eingemietet und dort auf Fotos festgehalten, was man alles mit ihm zu seinem Guten anstellte. Man kann das freilich auch sehr viel leichter bewerkstelligen: Man legt sich einfach in eine Hängematte und lässt Leib und Seele baumeln. Im Unterschied zum sonst in Kunstausstellungen geltenden Grundsatz, dass nichts berührt werden darf, ist hier hineinlegen erlaubt.
„Auszeit. Von Pausen und Momenten des Aufbruchs“. Kunstmuseum Ravensburg bis 15.8.2021. Katalog 353 Seiten, 22 Euro