In einem Jahrhundert, in dem ein Kasimir Malewitsch ein schwarzes Quadrat zur Kunstikone machte, in dem die konkrete Kunst propagierte, es gebe nur die Linie, die Fläche und die Farbe, und die seien nur das, was sie sind, nicht Mittel zum Zweck einer Darstellung, dürfte die menschliche Figur, die neben der Landschaft und dem Stillleben jahrhundertelang die bildende Kunst geprägt hatte, keinen Platz mehr haben. Doch weit gefehlt, wie eine Ausstellung im Kunstmuseum Albstadt zeigt. Die Figur behauptete sich, wenn auch unter neuen Voraussetzungen.
Als Ludwig von Hofmann 1889 seinen Sitzenden Jüngling mit Speer zeichnete, stand er ganz in der Tradition der akademischen Zeichen- und Malkunst: Die Körpervolumina sind deutlich herausgearbeitet, das Gesicht wirkt, als wollte sich der junge Mann im nächsten Augenblick lebendig vom Zeichenblatt erheben – ein Abbild des Lebens.
Ganz anders der Jünglingsakt, den Max Ackermann 1906 schuf. Auch wenn ein Grasboden und ein Busch angedeutet sind, hat das Bild mit der Lebenswirklichkeit nur wenig zu tun. Die Farben sind in sich stimmig als Farbsymphonie, nicht als Naturwiedergabe, und die dicke ockerfarbene Umrisslinie hat mit einer Körperdarstellung nichts zu tun. Das Bild folgt rein malerischen Kriterien.
Dieser Paradigmenwechsel – weg vom Abbild hin zur Konzentration auf die künstlerischen Ausdrucksmittel – sollte die weitere Entwicklung prägen; insofern weist Ackermanns Bild, wiewohl ganz zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden, in die Zukunft. Georg Tapperts Drei weibliche Akte aus demselben Jahr weisen nur noch Andeutungen von Körpern auf. Ihre Haltungen folgen nicht natürlichem Bewegungsdrang, sondern einer unregelmäßigen, abstrakten roten dicken Linie: Der Mensch folgt der Bildkomposition, nicht umgekehrt!
Noch einen Schritt weiter ging Heinrich Campendonk zehn Jahre danach. Seine nackte Frauenfigur ist Teil einer Urwaldszenerie, in der alles rein malerischen Gesetzen folgt – in Farbe und Form. Der grün gezeichnete Körper fügt sich ganz in die Farbkomposition ein, die runden Linien bedingen die diagonale Lage – der Mensch ist Teil der Natur, so die mögliche Aussage dieser Darstellungsweise. Es ist nicht das einzige Mal, dass ein Künstler die menschliche Figur zum Ausdruck einer Weltvorstellung machte. Walter Wörn ließ 1946 einen Frauenkörper ganz aus einer Farbkomposition heraus erwachsen, nur durch weiße Linien angedeutet – die Frau im Einklang mit der Natur. Gottfried Graf fügte den Menschen ein in eine kosmische Landschaft aus strahlendem Rot und Gelb. Der Mensch ist immer noch im Zentrum, aber nurmehr Teil einer ganzen Welt- und Kunstsicht. Wie weit eine solche Einbettung des Körpers in reine Farbsymphonien gehen konnte, zeigte Adolf Hölzel, der eine regelrechte Farbtheorie in seiner Malerei praktisch durchexerzierte.
Aber auch formal konnte die menschliche Figur Körper bleiben und zugleich ganz in einer Bildkomposition aufgehen. Bei Oskar Schlemmer lösen sich die Formen in lauter Kreisgebilde auf, und Johannes Itten gelang mit kreisenden Malbewegungen gar der Eindruck einer Bewegung im Raum.
Die theoretische Voraussetzung für solche zeichnerischen Behandlungen des menschlichen Körpers hatten Pablo Picasso und Georges Braque ab 1906 gelegt, als sie den Körper wie überhaupt die ganze Dingwelt in lauter geometrische Teile zerlegten und wieder neu zusammensetzten, meist Dreiecke und Kreise. Wie sehr dieser Kubismus die Kunst in Deutschland beeinflusst hat, zeigt eine Kreidezeichnung von Otto Dix, bei der sich alles in kleine Teile auflöst, deren Zusammensetzung ganz eigenen Formgesetzen folgt, nicht denen der Natur.
Schon 1917 schuf Otto Lange so das Bild eines Knaben mit zwei Katzen, in dem das spitze Dreieckige des Katzengesichts das ganze Bild prägt und den Knaben fast katzenhafter wirken lässt als die Tiere selbst.
So entstanden Bilder, die zwar dem menschlichen Körper treu blieben, ihn aber in etwas ganz Eigenes verwandelten. Von da war es nur noch ein Schritt zu den nicht selten von Träumen bestimmten Bildern der Surrealisten. In Deutschland entwickelte Hans Bellmer eine ganz eigene Figurenwelt. Und auch die eigentlich strikt gegenstandslose Kunst des Informel, die ohne Kubismus und Surrealismus wohl kaum denkbar gewesen wäre und die die Kunstwelt nach 1945 dominierte, erinnert immer wieder an menschliche Körper, auch wenn sich derartige Assoziationen auf Grundphänomene wie das Stehen oder Liegen beschränken wie bei Karl Otto Götz.
Dass sich daraus dann ganz eigene Figurenwelten entwickelten wie in der so genannten Neuen Figuration im Gefolge eines HAP Grieshaber, war nur konsequent, wie der „Kopffüßler“ von Horst Antes zeigt, dessen Gesicht mit den übereinander gelagerten Augen deutliche Spuren von Picasso aufweist.
Das hatte auch Auswirkungen auf die Bildhauerei, die mit immer abstrakteren Formen doch den Eindruck von Figurengruppen und alten Posen wie der Liegenden, der Stehenden oder Sitzenden erweckt, bis hin zur Bewegung bei Gerlinde Beck, die sich von Ausdruckstänzerinnen der 20er Jahre inspirieren ließ.
So verwandelte sich das Bild der Figur vom Abbild zum autonomen Bild, in dem die menschliche Figur manchmal nurmehr vage Assoziation war – aber immer noch Figur blieb und nicht zuletzt sogar der Abstraktion im 20. Jahrhundert immer neue Inspirationen lieferte.
Mit seinem Katalog, den Kai Hohenfeld zu seiner Ausstellung verfasste, gelang dem Ausstellungskurator zudem eine kompakte Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der menschlichen Figur.
„HIP TO BE SQUARE. Figur und Abstraktion im 20. Jahrhundert“, Kunstmuseum Albstadt bis 5. Juni 2022, Katalog 68 Seiten, 15 Euro