Von Beethoven einmal abgesehen hat kaum ein Komponist des frühen 19. Jahrhunderts die Komponisten des 20. derart aufgewühlt und angesprochen wie Franz Schubert. Bei Gustav Mahler hat man gelegentlich den Eindruck, er habe sich bei Schubert bedient und führe ihn in seine Gegenwart weiter. 1990 füllte Luciano Berio drei sinfonische Fragmente Schuberts mit Klängen aus seiner Feder auf, und drei Jahre danach ersetzte Hans Zender in Schuberts Winterreise den Klavierpart durch eine Orchesterversion, die derart theatralisch ist, dass sie gleich mehrere Choreographen zu Balletten anregte. Jetzt hat die Staatsoper Stuttgart das Werk szenisch auf die Bühne gebracht.
Was für ein Bühnenbild! Eigentlich stellt es nur den „Orchesterraum“ dar, in dem die knapp dreißig Instrumentalisten sitzen, aber Aernout Mik gelang es, mit Hilfe von gleißend grellen kleinen Lichtern an den Notenpulten eine kalte futuristische Landschaft heraufzubeschwören, die Assoziationen an das in den Liedern so oft zitierte kalte, abweisende Eis aufkommen lassen. In dieser „Landschaft“ irrt der Reisende umher, sein Ziel suchend, es stets von Neuem verfehlend.
„In gehender Bewegung“ schreibt Schubert für das erste Lied vor, und so kennt man es auch von der Klavierbegleitung. Bei Hans Zender aber wird geradezu ein klangliches Drama des Gehens daraus, beginnend mit einem leisen, unheimlich wirkenden Wischen über die kleine Trommel bis hin zu martialischen Marschrhythmen, die an Krieg denken lassen. Zender hat den Klavierpart nicht einfach orchestriert, er hat ihn ins 20. Jahrhundert überführt und eine eigene Klangwelt geschaffen. Diese Musik kann volksmusikalisch schwelgen mit Akkordeon und Gitarre, aber sie kann zum Geräusch werden, mal schaurig leise, mal überwältigend laut. Der Sänger greift gelegentlich zum Mikrophon, um seine Worte, die oft geradezu aus seinem Innersten nach außen zu bersten scheinen, hinauszuschreien, was ihnen eine übermenschliche Dimensionen verleiht. Matthias Klink lotet dieses riesige Klangspektrum grandios aus.
Dabei belässt er es nicht beim Gesang. Er ist ein großartiger Sängerdarsteller, und so löst er sich von der üblichen Haltung des Liedsängers, der von seinem Platz neben dem Flügel aus die Emotionen ganz in die Musik zu legen versucht. Klink agiert mit dem ganzen Körper. So irrt er in dieser kalten Welt umher ohne Ziel und ohne Hoffnung, sucht Halt in wechselnden Identitäten, indem er immer wieder die Kleidung wechselt. Damit wird er in Aernout Miks Personenführung subtil Zenders Anliegen gerecht, der die alte Liederabendtradition radikal ablehnte und sie mit den Worten ironisierte: „Zwei Herren im Frack, Steinway, ein meist sehr großer Saal“.
Matthias Klink Foto: Matthias Baus
Zenders Version schreit geradezu nach einem aktiven Sänger, und Klink gibt den ganzen Körpereinsatz. Dabei krümmt sich sein Körper zerquält, reckt sich kurz zu trotzigem Aufbegehren auf, sinkt wieder in sich zusammen. Hier bilden Körpersprache und Gesang eine nahtlose Einheit.
Vor allem macht er mit seiner Stimme die wachsende Verzweiflung dieses Heimatlosen spürbar deutlich, der nicht einmal im eigenen Ich Halt findet, dem seine Individualität zerfasert. Wie Klink, auf jeden falschen Wohlklang des Gesangs verzichtend, die Abgründe in diesen Seelenporträts gestaltet, überträgt sich unmittelbar auf den Zuschauer. Zender lässt die Trommeln hauchen, die Windmaschine jaulen, die Holzbläser ins Leere hinein klagen. Dirigent Stefan Schreiber gelingt es, die einzelnen Instrumente in ihrer Eigenqualität brillieren zu lassen, bündelt sie aber immer auch zum Gesamtklang und entspricht damit perfekt den musikalisch-klanglichen Visionen von Hans Zenders „komponierter Interpretation“. Matthias Klink greift jede Nuance dieses Klangkosmos mit seiner Stimme auf, krächzt, singt legato, abgehackt, ganz wie Zenders Partitur es den Instrumenten vorgibt. So bewegt sich sein Gesang auf drei Ebenen – er deutet die Texte von Wilhelm Müller in jeder Nuance, lotet das musikalische Geschehen Schuberts aus und fügt sich nahtlos in Zenders Komposition ein.
Auf diese Weise bilden Bühnenbild, musikalische Gestaltung und schauspielerische Ausdruckskraft eine dem Inhalt der Lieder – und zwar dem verbalen wie dem musikalischen! – in jedem Detail einander entsprechende Partner.
Matthias Klink, Mitglieder des Staatsorchesters Stuttgart. Foto: Matthias Baus
Was sich freilich von Aernout Miks Videos nicht uneingeschränkt sagen lässt. Dieser Künstler, der vor allem als Videokünstler, weniger als Regisseur bekannt ist, lässt hier auf drei Leinwänden Filme ablaufen, meist in Kurzszenen, nicht kontinuierlich, die das Liedgeschehen kommentieren sollen. So wird bei der andeutungsweise hoffnungsvollen Vision unter dem „Lindenbaum“ der Bau der Twin Towers gezeigt, denen wie den Träumen in Müllers Gedicht und Schuberts Komposition keine gute Zukunft beschieden sein sollte.
Die Videoszenen folgen einem genau ausgeklügelten Plan. So zeugen die ersten Bilder vom Urgrund des Seins (Weltall und Zellstrukturen). Dieser Blick weitet sich alsbald auf die Gesellschaft aus – Szenen von der Loveparade, von Demonstrationen in Paris, dem Run auf den Schlussverkauf, um schließlich im Stuttgarter Opernhaus zu landen, bei den Musikern, die nach der Probe durch das Haus schlendern, bis hin zum aktuellen Publikum. Die Massenszenen kann man deuten als Aufgabe des Individuums in der modernen Gesellschaft, doch zur Erhellung des Lebens im Allgemeinen, der Winterreise und dessen, der diese Reise zu den Worten von Müller und den Tönen von Schubert und Zender unternimmt, tragen sie wenig bei.
Was der Regisseur Mik mit seiner szenischen Gestaltung der Reise des Sängers durch die Instrumentenwelt gestaltet hat, hätte ausgereicht. Die Videos lenken ab von dem subtilen Beziehungsreichtum innerhalb der Lieder (Text – Musik), zwischen Schuberts Liedgesang und Zenders orchestraler Interpretation, wie er diese Komposition nennt, und dem singenden und spielenden Agieren von Matthias Klink. Diese drei Ebenen bilden eine perfekte poetische Einheit.