Für Natur und Landschaft waren das 17. und 18. Jahrhundert eine Blütezeit, im 19. löste sich die Landschaftsdarstellung bereits in Sinneseindrücke auf, und im 20. ließen Abstraktion und Verfremdung wenig Raum für diese Motivik. Natur tauchte da eher materiell auf wie bei den Pollenarbeiten von Wolfgang Laib oder symbolisch wie das Thema Energie bei Joseph Beuys. Für den Bildhauer Gianni Caravaggio ist das Naturerleben zwar ein zentraler Teil seines Lebens, doch versucht er gar nicht erst, Landschaft und Natur abbildend darzustellen, vielmehr will er im Betrachter Assoziationen an eigene Naturerlebnisse wachrufen.o
Als Natur jung war heißt die neueste Arbeit von Gianni Caravaggio, er hat sie eigens für die Reutlinger Ausstellung geschaffen und hätte sich dafür keinen passenderen Stein wählen können als grünen Guatamela-Marmor, denn es geht in der Arbeit um Pflanzliches. Caravaggio hat aus einem großen Steinblock vegetabile, an Blätter erinnernde Formen gesägt und im Raum verteilt. In den Block selbst hat er exakt realistisch ein Laubblatt gemeißelt – junge Vegetation eben, und doch kann sich in diese Assoziation auch ein anderer Aspekt mischen, denn diese Blätter sind Versteinerungen, also tote Natur.
Ein solches „Sowohl-Als auch“ drängt sich einem bei zahlreichen dieser Arbeiten auf. Anfang heißt eine Arbeit von 2008. Sie besteht aus einigen Kugeln aus verschiedenen Materialien – Bronze, Marmor, Zink, Aluminium -, die Caravaggio in einer Art kleiner Schale auf dem Boden versammelt hat. Mit „Anfang“ bezieht er sich auf die Urknalltheorie zur Entstehung des Universums, derzufolge mit großer Energie ein ursprünglich kompaktes Material in alle Richtungen explodierte und immer noch fliegt. Dafür spricht, dass zu diesen Kugeln bei dieser Arbeit auch kaum sichtbare, aber vorhandene Dellen in den umliegenden Wänden gehören. Caravaggio hat die Kugeln mit großer Gewalt an die Wände geworfen und so die Ausdehnung des Urknalluniversums angedeutet. Doch weil die Kugeln jetzt vollkommen ruhig, als wäre nichts gewesen, in der Mitte des Raums liegen, könnte die Arbeit auch das Ende meinen, wenn nach der Ausdehnung des Universums alles wieder zu einem großen Materieballen zusammenfliegt, so eine weitere Theorie. Das wäre dann das Ende.
Dieses „Sowohl-Als auch“ hat er in einer Arbeit sogar im Titel angedeutet: Sugar no sugar molecule heißt sie, Zucker – kein Zuckermolekül. Dafür hat er aus unterschiedlich großen Würfeln – aus Stein, aber eben auch aus Zucker – einen riesigen Quader gebaut, der von einer Seite ganz regelmäßig wirkt, von der anderen wie ein chaotischer Haufen. Ordnung und Chaos, groß und klein, Zucker und eben nicht Zucker.
Nicht selten vereint er in seinen Arbeiten auch unterschiedliche Phasen oder Zustände. So hat er zum Thema Wolke einen riesigen Alabasterstein zersägt und versetzt wieder zusammengebaut. So scheint das Gebilde zu ruhen und zugleich in Bewegung zu sein. Und wieder hätte er kein passenderes Material wählen können, denn Alabaster ist vor Jahrtausenden aus Wasser entstanden, aus dem ja auch eine Wolke besteht.
Für sein Werk zum Thema Morgenröte hat er er sechs Messingstäbe einmal mit rotem Faden zusammengewickelt – das ist gewissermaßen ein kompakter Sonnenstrahl, der sich dann in einem zweiten Zustand in sechs Richtungen leuchtende Sonnenstrahlen öffnet – vor und nach dem Sonnenaufgang.
Eine dem Thema Zeit gewidmete Arbeit besteht aus einem von oben herabhängenden Seil, das sich bewegt, wenn man daran vorbeigeht, und einem darunter stehenden Metallstab, beide durch einen kleinen Abstand voneinander getrennt. Das Seil kann man als Momentzeit deuten, die stets in Bewegung ist, den Stab als Ewigkeit, die fest und unverrückbar existiert.
Und eine solche Dichotomie findet sich auch bei seinen dem menschlichen Leben gewidmeten Arbeiten. So hat er eine runde Terrakottasäule in zwei Teile getrennt und nebeneinander auf dem Boden platziert. Das ist ein Paar mit antiken Gefühlen, denn der Terrakottastein wirkt wie ein Stück einer antiken Säule, ein Paar, das sich freilich nicht ansieht, obwohl die Trennnähte von oben betrachtet wie zwei Profilansichten eines Gesichts wirken. Das Paar steht Rücken an Rücken. Ein weiteres Paar besteht aus zwei kleinen Bohnen, die Caravaggio in zwei Rillen einer Marmorspirale gesetzt hat. Beide wissen nichts voneinander und gehören doch zusammen.
Und auch in der Materialkombination findet sich dieses „Sowohl-Als auch“. Toter Stein ist nicht selten verbunden mit Samen, aus denen neues Leben sprießen kann. Das Leben, so zeigt der Gang durch diese Ausstellung, ist keine eindeutige Angelegenheit, es ist voller Widersprüche, die doch zusammengehören wie Geburt und Tod.
Zu solchen geradezu philosophischen Assoziationen regen die Titel an, die freilich nicht immer ohne weiteres nachvollziehbar sind, weil sich Caravaggio oft auf persönliche Naturerlebnisse bezieht. Man kann diese Arbeiten aber auch rein ästhetisch genießen, denn Caravaggio ist ein meisterhafter Bildhauer mit einem sensiblen Gespür für Materialien.
„Gianni Caravaggio. Als Natur jung war/When nature was young“, Kunstmuseum Reutlingen/konkret bis 30.1.2022. Katalog 129 Seiten, 10 Euro